Rezension (4/5*) zu Im Bann: Roman von Jennifer Egan

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.622
16.632
49
Rhönrand bei Fulda
Buchinformationen und Rezensionen zu Im Bann: Roman von Jennifer Egan
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„Du erzählst die Geschichte, und dann bist du frei"

Klappentext: "Irgendwo in Europa treffen sich zwei Cousins auf einer verfallenen Burg. Howard ist zu Macht und Ansehen gekommen, während Danny, der Internetfreak, nach immer neuen Ablenkungen sucht. Schon bald nach seiner Ankunft glaubt Danny, dass sein Cousin ihn an diesen seltsamen Ort gelockt hat, um Rache zu nehmen – und ein altes Familiengeheimnis zu lüften."

Es könnte einer der großen Wälder in Polen sein, in Tschechien oder im Böhmerwald: Danny weiß selbst nicht, wo er eigentlich ist. Gleich im ersten Kapitel stellt er sich als vollkommener Idiot dar, aber auf eine verschusselte Art sympathisch. In ungeeigneter Kleidung (Samtjacke und Großstadtstiefel), mit gegeltem Haar und erdbrauem Lippenstift (!) geziert, stolpert er mit Samsonite-Koffer und einer tragbaren Satellitenschüssel auf eine Burgruine zu, die sein Cousin Howie gekauft hat - der Familienstammsitz der Barone "von Ausblinker", so heißen sie tatsächlich. Der Einstieg in dieses Buch ist derart bizarr, dass er geradezu nach Verfilmung schreit. Als Danny es endlich in die Ruine hineingeschafft hat - wobei er auch noch der letzten Baronin von Ausblinker begegnet, die schon über neunzig ist, aber immer noch Herrscherallüren zur Schau trägt -, stellt sich heraus, dass Cousin Howie ihn dringend erwartet. Sein Plan ist, die Burg wenigstens teilweise zu renovieren und zu einem "psychohygienischen" Wellnesshotel zu gestalten, wobei er auf Dannys Hilfe hofft. Das traumatische Kindheitserlebnis, das die beiden verbindet ("Familiengeheimnis" ist m.E. die falsche Bezeichnung), scheint er vergessen zu haben. Oder doch nicht? Das wird sich zeigen.

Was der Klappentext verschweigt: Es gibt einen zweiten Erzählstrang, der den ersten in ganz anderem Licht erscheinen lässt. In einem amerikanischen Gefängnis hat sich der Häftling Ray zu einer Schreibgruppe gemeldet und versucht, unter Anleitung der Lehrerin Holly einen literarischen Text zu verfassen. Holly ist nicht nur eine hübsche Frau, die einzige, die Ray in der Haftanstalt überhaupt zu Gesicht kriegt. Sie wird für ihn zur Muse, eine Zauberin, die ihn in die Welt der Wörter und Geschichten einführt: hier kann er sich frei fühlen. Ah, denkt sich die Leserin, die Geschichte um Danny und seinen Cousin wird also gerade von Ray geschrieben. Das ist irgendwie korrekt - aber, wie sich erweist, irgendwie auch wieder nicht.

Die beiden Erzählstränge laufen fast durch das ganze Buch nebeneinander her. Dannys Erlebnisse sind skurril, teils gruselig, teils urkomisch; Rays Bericht (in Ich-Form geschrieben) ist von einem grimmigen Humor geprägt, der den Schwerverbrecher als doch gar nicht so übel erscheinen lässt. Am Ende, als die beiden Stränge zusammengeführt werden, sieht dann plötzlich alles wieder ganz anders aus.

Es gibt viel hintergründige Komik in diesem Buch und viel Kulissenschieberei - wobei man nie sicher sein kann, was Kulisse ist und was erzählte "Wirklichkeit". Ein toller Roman voll ungewöhnlicher Wendungen, den man auf ganz trivialer Ebene als Abenteuerroman lesen kann, aber auch als ein spielerisch-ernsthaftes Werk über die Kraft der Imagination und des Geschichtenerzählens. Der Vergleich mit Italo Calvino (Klappentext) ist ein bisschen hoch gegriffen, aber im Prinzip stimmig. Kleinen Abzug gibt es nur für die, meiner Meinung nach, nicht immer geglückte Erzählökonomie: Manches erscheint überflüssig breit auserzählt (das gilt vor allem für Dannys affirmative Hirngespinste), anderes geht zu schnell und zu oberflächlich - das Buch hätte für mich gern ein bisschen länger sein dürfen. Alles in allem gelungen und sehr lesenswert. (Erschienen übrigens schon 2006, was Dannys merkwürdige Kämpfe mit seinem Mobiltelefon erklärt.)



 
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Yolande

Bekanntes Mitglied
13. Februar 2020
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Klingt hervorragend und ist schon auf meiner Wunschliste notiert :smileeye . Vielen Dank für die schöne Rezension
 
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