Rezension Rezension (4/5*) zu Ich bleibe hier von Marco Balzano.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Hierbleiben gegen alle Widerstände

Auf dem Titel des Romans “Ich bleibe hier“ von Marco Balzano finden wir das Postkartenmotiv eines im Wasser versunkenen Kirchturms. Viele von uns werden diesen Kirchturm schon einmal auf einem Bild oder sogar während eines Urlaubs in Norditalien selbst gesehen haben. Dabei drängt sich unwillkürlich der Gedanke auf, dass dahinter eine komplexe Geschichte voller Emotionen, Verletztheiten und Verlusten liegen muss. Der Kirchturm schreit also geradezu danach, dass seine Geschichte bzw. die Geschichte der Menschen erzählt wird, die um ihn herum einmal gelebt haben. Mario Balzano hat genau diesen Schrei aufgegriffen und seinen italienischen Bestseller-Roman genau darüber geschrieben.
Er erzählt dabei die Geschichte der Trina, die stark verwurzelt im Dorf des Kirchturms Graun als deutschstämmige Frau lebt. Graun beschert ihr damit eine Heimat, in der ihre nationale Herkunft zu einem Problem wird. Die Region gehört nämlich nicht zum deutschen Gebiet sondern liegt im Gebiet des Staates Italien, den es in dieser Form überhaupt erst seit einigen Jahrzehnten gibt. Auf Trina und ihrer Familie lastet deshalb der beständige Druck, der auf eine Minderheit allzu oft ausgeübt wird. Der Druck verstärkt sich, als - angeheizt durch den Zweiten Weltkrieg und das nationalistische Bestreben der beiden Länder Italien und Deutschland - diese Minderheit für nationale Interessen instrumentalisiert und ausgenutzt werden soll. Das Bekenntnis „Ich bleibe hier“, das Trina mit ihrer Familie überzeugt lebt, ist dabei ein Bekenntnis für die Heimat als das Dorf und die Umgebung, zu der natürlich vor allem auch die Kirche gehört. Immer mehr Menschen in dieser „Heimat“ allerdings suchen ihr Glück auf der anderen Seite der Grenze und erkennen ihre Heimat in der Nation und Sprache. Die Entscheidung des hier oder dort wird immer politischer, je mehr der Nationalismus die politische Marschrichtung in beiden Ländern bestimmt. Trina und ihre Familie bleiben standhaft in ihrem Dorf Graun. Doch reist dieser Konflikt des „Hier oder Dort“ eine große Wunde in ihre Familienbande, denn ihre Tochter Marica, selbst eigentlich noch viel zu jung für eine Entscheidung über diese Frage, wird auf die andere Seite, auf die Seite des „Dort“ geworfen, indem sie von Tante und Onkel mit nach Deutschland genommen wird – ob freiwillig oder nicht, wird der Leser in dem Buch nie erfahren, wobei für mich diese Frage auch keine Rolle spielte, denn der freie Wille eines kleinen Kindes kann solche tiefschürfenden Entscheidungen wohl gar nicht treffen.
Das Kriegsgeschehen und das Zerren beider staatlicher Seiten an den Menschen der deutschen Minderheit zwingt Trina und ihre Familie über einen langen Zeitraum hinweg zum Leben in der bergigen, kalten Wildnis der Südtiroler Berge.
Und als dann der Krieg beendet ist und das Dorf Graun wieder als Heimat zur Verfügung zu stehen scheint, zeigt sich, dass der Minderheitenstatus erneut das Leben Trinas erschüttern wird, denn der italienische Staat hat sich schon seit langen gerade dieses Gebiet ausgesucht, um es durch einen Stausee geradezu auszulöschen. Es ist ein ingenieurtechnisch und wirtschaftlich mehr als fragwürdiges Projekt, das da nun gegen erhebliche Widerstände wohl auch und maßgeblich aus politischen Beweggründen realisiert wird. Trina und ihr Mann versuchen lange, einen Widerstand gegen dieses Projekt auch aus der Dorfbevölkerung heraus anzukurbeln, doch die Menschen ihrer Heimat sind ausgelaugt und demoralisiert genug, damit sie alles mit sich geschehen lassen. Und so kommt der Stausee, das Dorf wird unbewohnbar überflutet und als Denkmal dieser nationalistisch-politisch motivierten Umweltzerstörung ragt noch heute der auf dem Titel gezeigte Kirchturm aus dem Wasser. Südtirol hat weiterhin eine bedeutende deutsche Minderheit, die in Zeiten von schwächerem nationalistischem Denken, wie es durch die Schaffung der Europäischen Union mit ihren durchlässigen Grenzen geschehen, einem geringeren Druck ausgesetzt ist. Wie wichtig das ist, zeigt uns noch einmal dieses Buch mit seinem Ausflug in die anders geartete Vergangenheit.
Mein Fazit:
Diese Geschichte musste einfach erzählt werden und Balzano hat sich dafür sehr passende Charaktere geschaffen und ihre Geschichte mit weitgehender Sachlichkeit, aber auch mit Herz und Gefühl erzählt. Dabei geriet in meiner Wahrnehmung die Erzählung über den Druck durch den Bau des Staudamms wesentlich schwächer über den Druck durch die Zerrissenheit zwischen zwei Nationen v.a. im Krieg. Im hinteren Teil des Buches erschienen mir nicht nur die Helden der Geschichte ausgelaugt und geschwächt durch die Kämpfe und Herausforderungen der Vergangenheit, sondern auch dem Autor ist ein wenig die Puste ausgegangen bei seinen Schilderungen.
Aber das tut meiner positiven Bewertung des Buches keinen Abbruch. Ich vergebe vier dicke Sterne!


 
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