Ein Außenseiter kommt zu Wort – und entblößt ein ganzes Dorf
Ein Dorf in den Bergen Korsikas, Mitte der 1980er-Jahre. Als die 16-jährige Florence tot im Pinienwald gefunden wird, ist ein Schuldiger schnell ausgemacht: Antoine Orsini, der Dorftrottel, dem die Walnussbäume näher sind als die Menschen und der ein Diktiergerät seinen besten Freund nennt. Jahre später hat er seine Haftstrafe abgesessen und kehrt zurück. Noch immer spricht im Dorf niemand mit ihm, und so streift Antoine allein umher und berichtet einem Plastikstuhl davon, was damals wirklich geschehen ist. Ruppig und mit eigenwilliger Sinnlichkeit erzählt ein einfacher Mann seine Geschichte. Und die Geschichte einer Dorfgemeinschaft, die so erbarmungslos ist wie die korsische Sonne.Kaufen
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Es gibt ja so Bücher, die sind wie eine Wundertüte auf dem Weihnachtsmarkt: man weiß nicht wirklich, was einen erwartet. So geschehen bei „Ich, Antoine“ von Julie Estéve, erschienen 2021 im dtv-Verlag.
Der Klappentext suggeriert den (zukünftigen) Leserinnen und Lesern einen „Roman voll bitterer Schönheit und ergreifender Menschlichkeit.“ (Le Monde) Nun, im weitesten Sinne stimmt das – sofern man sich auf die derbe, ungehobelte Sprache und das (tieftraurige) Setting einlassen kann.
Julie Estéve lässt in ihrem Roman den titelgebenden Antoine zu Wort kommen. Dieser erzählt im wahrsten Sinne des Wortes aus dem „Off“ seine Geschichte. Er ist nämlich tot. Und die Bewohner des kleinen korsischen Dorfes – nun ja, sind nicht wirklich in Trauer. Antoine war der sog. „Dorftrottel“, der von allen gemieden, verachtet, verpönt wurde. Als die schöne Florence tot im Wald gefunden wird, ist schnell klar, wer der Täter ist…Scheinbar, denn ganz so einfach ist es (natürlich) nicht.
Julie Estéve legt mit ihrem 2. Roman einen Gefühlsparcours auf´s literarische Parkett, der sich gewaschen hat. Nicht nur lässt sie Antoine reden, wie ihm der Mund gewachsen ist (es geht sprachlich also durchaus derb zu, was dem einen oder der anderen Leser*in nicht gefallen hat, obwohl es nicht aufgesetzt, sondern völlig authentisch wirkt), sondern sie legt mit dem abartigen Umgang der restlichen Dorfbewohner mit Antoine einen Finger in die Wunde der Gesellschaft. Auch wenn die Geschichte zu Beginn der 80er-Jahre spielt und sich im Umgang mit Menschen mit (geistiger) Behinderung vieles zum Guten entwickelt hat: in Zeiten, in denen Antisemitismus und Rassismus wieder zum „Alltag“ gehören, Anschläge auf Synagogen etc. verübt werden, rechte Parteien zweistellige Werte bei Wahlen erreichen, fühlt man sich schnell an eine dunkle Ära der deutschen Geschichte zurückerinnert, in welcher Menschen mit Behinderung als „lebensunwert“ eingestuft und umgebracht wurden.
Die Autorin hat mitnichten ein Wohlfühlbuch geschrieben, aber eins, das zeigt, wohin Hass, Vorurteile, vorschnelle Verurteilungen und Schuldzuweisungen etc. führen können.
In jedem Fall eins der herausforderndsten Bücher in 2021. Dafür gibt´s 4* und eine Leseempfehlung!
©kingofmusic
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