Ein junger Mann irrt durch eine Stadt, ohne Ziel und Daseinszweck, körperlich ausgezehrt, doch «vom fröhlichen Wahnsinn des Hungers gepackt». Das ist es, was ihn aufrecht hält: ein irrlichternder Geist, ein seismografisches Empfinden, eine fantastische Erfindungs- und Einbildungskraft. Den Kapriolen seiner halluzinatorischen Zustände verdankt der weltberühmte Roman jene ungeheure Komik, die schon Astrid Lindgren begeisterte. Nicht, was in ihm geschildert wird – nämlich die manischen Ausgeburten von «Hirnfieber» bei Nahrungsentzug –, sondern, wie diese existenzielle Grenzerfahrung gestaltet ist, macht ihn zu einem Meilenstein der literarischen Moderne. Der desolaten Verfassung des Ich-Erzählers entspricht ein fiebriger Sprachduktus, der Scham und Größenwahn, Verzweiflung und Überspanntheit nicht nur behauptet, sondern erstmals eine eigene radikale Erzählweise dafür findet. Über weite Strecken im inneren Monolog gehalten, entwickelt Hamsun hier Stilmittel, die Jahrzehnte später Marcel Proust, James Joyce oder Virginia Woolf aufgreifen werden. Nie zuvor oder danach sind Entbehrung und Hunger – der nach Brot wie der nach Anerkennung und Liebe – mit so ergreifender Tragikomik wiedergegeben worden wie im Hauptwerk des späteren Nobelpreisträgers.Kaufen
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Der Manesse Verlag hat dieser Tage eine Neuauflage des Klassikers „Hunger“ des norwegischen Literaturnobelpreisträgers Knut Hamsun herausgebracht, auf welche es sich lohnt, einen genaueren Blick darauf zu werfen. Es handelt sich dabei um die 1890 erschienene Urfassung des Romans, welcher bis 1934 insgesamt viermal in immer wieder geänderten Ausgaben neu vom Autor veröffentlicht wurde. Denn Hamsun wurde, wie aus der ausführlichen editorischen Notiz zu erfahren ist, im Alter immer reaktionärer, nationalchauvinistischer und duldete sein progressives Frühwerk zunehmend nicht mehr. Die aktuelle Ausgabe wurde außerdem von Ulrich Sonnenberg neu übersetzt und mit einem Nachwort der Autorin Felicitas Hoppe versehen.
Im Roman selbst geht es um einen mittlerweile mittellosen Ich-Erzähler und Schriftsteller, der sich im Oslo des ausgehenden 19. Jahrhundert, damals noch Kristiania genannt, die Tage und Nächte auf der Straße um die Ohren schlug, unter ständigem Geld und vor allem Nahrungsmangel. Dieser titelgebende Hunger wirkt sich nun auf den Bewusstseinsstrom und die geschilderten Handlungen des Erzählers signifikant aus. Er schwankt zwischen Hochmut, Stolz und Ehrgefühl und Selbstzweifeln, Selbstmitleid sowie im wahrsten Sinne des Wortes verrückten Ideen. Immer wieder bringt er sich selbst um Möglichkeiten an eine Mahlzeit zu kommen, kann nicht mit Geld umgehen und irritiert die Menschen in seiner Umwelt.
So wandert man „in vier Stücken“, den vier Teilen des Romans, mit dem Erzähler durch Kristiania, bangt mit ihm um seine nächste Mahlzeit und verflucht ihn genervt ob seiner Unfähigkeit rational zu denken und zu handeln. Die Ungeduld mit dem Protagonisten wird durch die ständigen Wiederholungen seiner Gedanken, Handlungen und Situationen, in welche er sich selbst katapultiert, im Verlaufe des Romans zunehmend gesteigert. Erwartet man immer das Schlimmste, kommt es wieder zu einer kurzfristigen glücklichen Fügung. Nur wenig Veränderungspotential gesteht der Autor seinem psychisch auffälligen Protagonisten zu. Denn der Erzähler scheint bereits vor seiner Hungerphase eine prämorbide Persönlichkeitsakzentuierung gehabt zu haben, welche ihn zum einen in seine missliche Lage gebracht zu haben scheint und sich nun - durch den Nährstoffmangel und den daraus resultierenden physischen aber eben auch psychischen Symptomen, die Hamsun sehr gut beschreibt – in besonders starken Ausprägungen äußert. Schwankt er doch stets zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.
Sprachlich, in der aktuellen Übersetzung von Ulrich Sonnenberg, kann Hamsun definitv überzeugen. Man sieht den Erzähler vor sich, wie er durch die Straßen Kristianias flaniert, rennt, schwankt, oder fast kriecht; wie er vor Erschöpfung kaum mehr die Augen offen halten kann und dann schon wieder einem Passanten hoch erregt eine Lügengeschichte auftischt. Oft fragt man sich, was davon der Erzähler tatsächlich erlebt und bei was es sich um Halluzinationen handeln könnte. Da weiß der Autor zu fesseln.
Letztlich hätte mir der Roman allerdings ohne die vielen Wiederholungen bzw. Variationen ähnlicher Situationen etwas mehr gefallen. Das Format einer Novelle hätte dem Inhalt des Textes durchaus auch gut zu Gesicht gestanden. Quasi etwas abgespeckt. Eine Formulierung, die einem nach der Lektüre von „Hunger“ allerdings doch ein wenig im Halse stecken bleibt.
Im noch einmal zur aktuellen Ausgabe zurückzukommen: Das Gesamtpaket der vorliegenden Veröffentlichung vom Manesse Verlag finde ich wirklich sehr gut gelungen. Endlich gab es, die von mir immer so schmerzlich vermissten, durchnummerierten und im Text gekennzeichneten Anmerkungen. Diese haben geholfen nicht nur das Romangeschehen aber auch die nachträglichen Abänderungen durch den Autor besser zu verfolgen bzw. zu verstehen. Die editorische Notiz ist ausführlich und erhellend, ebenso wie das Nachwort von Felicitas Hoppe. Es hat mir sehr gefallen, dass sich das Nachwort auch wirklich ausführlich mit dem vorliegenden Werk beschäftigt und gut verständlich ist. So war ich erleichtert zu lesen, "die Geschichte von Hunger hat keinen Kern, genauso wenig, wie man von einem bündigen Plot sprechen könnte". Tatsächlich ist dies nämlich schwer greifbar beim vorliegenden Roman. Toll finde ich, dass das Nachwort mit einer Quellenangabe unterfüttert ist, die eine vertiefende Beschäftigung mit dem Werk anregt und leicht nachvollziehbar macht. Meines Erachtens hat hier der Verlag in der Zusammenstellung dieser Ausgabe wirklich alles richtig gemacht.
Den Roman an sich würde ich insgesamt mit 3,5 Sternen bezüglich meiner Lektüre bewerten. Da mir die Ausgabe des Manesse Verlags in ihrer Ausstattung sehr gut gefällt, runde ich auf 4 Sterne auf.
3,5/5 Sterne
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