Rezension Rezension (4/5*) zu Herzfaden: Roman der Augsburger Puppenkiste von Thomas Hettche.

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Die Augsburger Puppenkiste ist mehr …

Kurzmeinung: Hat mich nicht so geflasht wie "Die Pfaueninsel", aber ihr werdet dem Urmel wiederbegegnen! Tas ist tsicher.



Der Roman „Herzfaden“ von Thomas Hettche, zur Zeit (10.9.2020) sich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises befindend und somit bereits als einer der besten deutschen Romane dieses Jahres ausgezeichnet, beschäftigt sich mit den Erfindern der Augsburger Puppenkiste.



Die Familie von Walter Oehmichen, wobei Walter in leiternder Position am Stadttheater Augsburg beschäftigt war, wurde wie die meisten deutschen Familien in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen. Es ist nicht ganz klar, wie weit Walter Oehmichen oder die Familie selbst die Nazi-Ideologie mittrugen und verinnerlicherten, ob sie einfache Mitläufer waren oder mehr dahinter stand, die Kinder waren jedenfalls in der Hitlerjugend und wurden dort und auch im Schulunterricht entsprechend gehirngewaschen. Andererseits setzte der Vater auch verbotene Stücke auf den Spielplan, ein wenig getarnt, unter falscher Flagge, aber durchaus erkennbar. Widerstandskämpfer aber waren sie alle nicht.



Die jüngere Tochter Hannelore erbt vom Vater die Liebe zur Schnitzkunst und zum Puppentheater und hilft ihm in der Nachkriegszeit tatkräftig, das kleine Theater aufzubauen. Als das Fernsehen in seinen Kinderschuhen noch, auf die Marionettenspieler und seine Geschichten aufmerksam werden, stehen die Zeichen auf Grün: die Augsburger Puppenkiste wird berühmt und ist aus keinem Kinderzimmer mehr wegzudenken.



Kommentar: Thomas Hettche schreibt wie gewohnt in anmutiger Sprache und in einer zweifachen Erzählung diese Entwicklung auf. Dabei werden die Toten groß und die Lebenden klein. Warum ist das so? fragt sich der Leser. Und warum hat Hatü denn Angst gehabt vor dem Kasperl mit der großen Nase?



Wie auch immer: man entdeckt im Roman „Herzfaden“ den Herzfaden, das ist der Faden, den die Puppen gar nicht haben, denn er ist unsichtbar. Und man entdeckt die Freunde der Kindheit wieder und ihren ernsten Hintergrund. Einen Schuss Surrealismus, wie es gerade modern ist, hat der Autor mit den Szenen auf dem Dachboden mit eingegossen. Hat dieser Schluck Surrealismus einen tieferen Sinn?



Die Metaebene des Romans ist mehr angedeutet als ausgeführt, aber sie ist da. Ausgburger Puppenkiste und Zweiter Weltkrieg sind zeitgleich, das hat Auswirkungen auf den Roman und auf das Leben. Die Augsburger Puppenkiste ist gleichzeitig Märchen, Hoffnung und Auseinandersetzung. Gleichzeitig Vergangenheit und Gegenwart, wie der Autor schreibt.



Fazit: Die Augsburger Puppenkiste, wiederauferstanden nach einer Bombennacht in Augsburg, hat eine Geschichte, weil sie Teil der Geschichte ist.



Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020
Kategorie: Anspruchsvoller Roman
Verlag: Kiwi, 2020

 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wunderbare Rezension, liebe Wanda! Man merkt, dass du deine Gedanken zum Buch gut sortiert hast, was mir eine Eingliederung ermöglicht. Ich lass es erstmal. Kindliche Perspektiven (Die Lebenden sind klein) und Surreales sind nicht meine Lesewelt.
 
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Wandablue

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18. September 2019
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Ich werbe für diesen Roman nicht in derselben Weise wie ich es für "Die Pfaueninsel" tat (und tue). Zweiter Weltkrieg ist einfach nicht mehr mein Thema und die Puppenkiste habe ich auch nur teilweise mitbekommen. Trotzdem ist Hettche ein Autor, der einfach aus jedem Thema etwas Besonderes machen kann.

A propos Zweiter Weltkrieg: die Nachwachsenden dürfen nicht vergessen. Insofern ist das Buch sehr gut, weil fein dosiert, in keinster Weise drüber. Aber für meine Generation stimmt auch: wir dürfen mal aufhören, Romane darüber zu lesen.