Rezension Rezension (4/5*) zu Giovannis Zimmer: Roman von James Baldwin.

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.682
22.041
49
Brandenburg
Von Leidenschaft und Lebenslügen

David lungert in Paris herum. Er lebt von Daddys Geld und tut keinen Handschlag. Dabei ist er schon dreissig und, wenn er schon sonst nichts tut, sollte er doch wenigstens bald eine Familie gründen. Da ist Hella, seine Verlobte. Auf was wartet er?

Auf Fügungen. David wartet auf Fügungen, denn er ist nicht das, was man entscheidungsfreudig nennt. Sondern im höchsten Grade verunsichert. Er verspürt eine starke homosexuelle Neigung, doch will er den Traum vom „normalen“ American way of life nicht leichtfertig an den Nagel hängen, zwei Kinder sollen im Garten spielen, eine hingebungsvolle, ihn betuttelnde, dennoch aufregende Ehefrau um ihn her sein und ihm Glanz verleihen, die Anerkennung der weißen Nachbarschaft ist ihm wichtig und vielleicht ein gut dotierter Job, bei dem man sich nicht allzu verausgabt, wer weiß. Das muss doch hinzukriegen sein.

Aber dann trifft er Giovanni, der sich nicht damit abgibt, seine Homosexualität zu verschleiern oder zu verleugnen. Und gerät in einen Sog. Einen sexuellen Strudel. Und in Konflikte. Denn Giovanni wirft ihm vor, nicht zu seiner sexuellen Prägung zu stehen und mehr oder weniger mit ihr und ihm zu spielen. Zitat: …“und sagte noch ein paar fürchterliche Sachen über dich, und du wärst schließlich nur ein kleiner Amerikaner, der in Frankreich treibt, was er sich zu Hause nicht trauen würde …“.

Baldwins zweiter Roman ist sprachgewaltig, er hat fabelhafte, wunderbare Bilder für Paris. Die Sprache James Baldwins nimmt den Leser sofort für die Lektüre ein. Der Autor schildert die Schwulenszene in Paris, die Bohemiens auch, die Zerrissenheit des weißen Amerikaners, der sich nicht erlaubt, zu sein, was er ist und sich für die Lebenslüge entscheidet, an der er dann doch scheitert. Ein Roman des Scheiterns. Ein Roman auch der Befindlichkeiten. Die männnlichen Figuren Baldwins fühlen sich ausgiebig und intensiv den Puls. Das ist abstoßend. Dann wieder rührend. Ein Elend. Obwohl nichts passiert, eigentlich, nimmt der Roman gewaltig Fahrt auf und wirkt bedrohlich.

Die weiblichen Figuren kommen nicht gut weg. Man spürt den Hass auf Frauen. Ist es Davids Hass, ist es Giovannis Hass oder ist es Baldwins Hass? Es ist nicht ersichtlich. Fest steht, dass die weiblichen Figuren keine Größe haben. Sie werden benutzt und weggeworfen, sie haben für sich genommen keine Bedeutung, definieren ihren Lebenssinn allein durch den Mann. Hella ist nicht nur bereit, ihr Äußeres den gängigen weiblichen Konventionen anzupassen, was schon schlimm genug wäre, sondern sogar dazu, ihr intellektuelles Leben aufzugeben, Hauptsache, sie hat einen Mann. Baldwin lässt sie sagen: „David, lass mich eine Frau sein, bitte. Mir egal, was du mit mir machst. Mir egal, was es kostet. Ich lasse mir die Haare wachsen, ich höre auf zu rauchen. Ich werfe meine Bücher weg.“ *kotz*. Während David einige Seiten vorher lässig meint: „„Ich liebte sie so sehr wie immer und wusste noch immer nicht, wieviel das war.“

Fazit: „Giovannis Zimmer“ ist ein vielschichtiger Roman, so schmal das Büchlein ist. Die Sprache ist richtig, richtig gut. Auf den Punkt. Die Atmosphäre des Paris der 1950er ist perfekt eingefangen. Die männliche Sexualität steht im Mittelpunkt. Sie ist gewalttätig, sanft und zerrissen. Doch die Art Baldwins über Frauen zu schreiben, nehme ich übel. Selbst dann, wenn man das Frauenbild zugrunde legt, das in den 50ern dominant war. Der Roman erschien 1956.

Kategorie: Anspuchsvolle Literatur.
Verlag: dtv, 2020


 
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