Rezension Rezension (4/5*) zu Gehen, ging, gegangen: Roman von Jenny Erpenbeck.

parden

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13. April 2014
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49
Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Gehen, ging, gegangen von Jenny Erpenbeck
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Richard ist seit kurzem emeritierter Professor für Altphilologie und bewohnt seit dem Tod seiner Frau am Rand von Ostberlin allein ein Haus an einem See. Richard hat eine Menge Zeit, und stellt sich zunehmend Fragen über das Vergehen derselben sowie über den Verlust von geliebten Menschen. Als er zufällig Asylsuchenden auf dem Berliner Oranienplatz begegnet, kommt ihm die Idee, bei genau ihnen nach Antworten zu suchen - bei jungen, afrikanischen Flüchtlingen. Immer häufiger und entschlossener nimmt er Kontakt zu ihnen auf, mischt sich unter die Asylbewerber, lässt sich auf die Afrikaner und ihre Schicksale ein, lädt einige zu sich nach Hause ein, kümmert sich, gibt Deutschunterricht – ein Pionier der 'Willkommenskultur'.


"Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will."


Je intensiver Richard Einblick in die Welt der Flüchtlinge erhält, aus deren Alltag jede Selbstverständlichkeit gekippt ist, desto aktiver wird er: Einerseits versorgt er die Flüchtlinge mit Notwendigkeiten wie Kleidung und Nahrungsmitteln und begleitet sie zu anstehenden Behördenterminen; andererseits arbeitet er sich, zunehmend fassungslos, durch den europäischen Paragrafendschungel:


"Es geht in dieser Verordnung gar nicht darum zu klären, ob diese Männer Kriegsopfer sind. Zuständig für den Inhalt ihrer Geschichte ist einzig das Land, in dem sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben. Nur dort dürfen sie um Asyl bitten, nirgends sonst ... Mit Dublin II hat sich jedes europäische Land, das keine Mittelmeerküste besitzt, das Recht erkauft, den Flüchtlingen, die übers Mittelmeer kommen, nicht zuhören zu müssen. Ein sogenannter Asylbetrüger ist also auch jemand, der eine wahre Geschichte dort erzählt, wo man sie nicht anhören muss."


Neben dem bürokratischen Hindernisparcours, der letztlich oftmals auf ein großes 'Nein' hinausläuft, versucht Jenny Erpenbeck, der Masse von Flüchtlingen hier ein Gesicht zu geben. Stark ist das Buch in den dialogischen Passagen, wenn Richards Begegnungen und Unterhaltungen mit den Flüchtlingen dargestellt werden, das Berühren und Aufeinanderprallen der Kulturen, dieses Crossover von Freundlichkeit und Befremden. Die Gedankengänge Richards dagegen zu den verschiedensten Themen geraten oft ein wenig langatmig und wirken angesichts der dringlichen Problematik oft eher nebensächlich. Überhaupt ist Richard keine besonders tief herausgearbeitete Romanfigur. Er bleibt weitestgehend blass, hat jedoch die Aufgabe, in oftmals kindlich anmutender Naivität nachzufragen, damit der Leser an seiner Stelle die Antworten bekommt.


„Ist nun der schon so lange andauernde Frieden daran schuld, dass eine neue Generation von Politikern offenbar glaubt, am Ender der Geschichte angekommen zu sein, glaubt, es sei möglich, all das, was auf Bewegung hinausläuft, mit Gewalt zu unterbinden? Oder hat die weite räumliche Entfernung von den Kriegen der anderen bei den unbehelligt Bleibenden zu Erfahrungsarmut geführt, so wie andere Menschen an Blutarmut leiden? Führt der Frieden, den sich die Menschheit zu allen Zeiten herbeigesehnt hat und der nur in so wenigen Gegenden der Welt bisher verwirklicht ist, denn nur dazu, dass er mit Zufluchtsuchenden nicht geteilt, sondern so aggressiv verteidigt wird, dass er beinahe schon selbst wie Krieg aussieht?“


Die Autorin konnte beim Schreiben noch nicht wissen, dass all diese Dinge nun in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Umso erstaunlicher ist es, wie sehr bereits in ihrem Buch genau jene Vorurteile zum Tragen kommen, die auch jetzt immer wieder zu hören sind - z. B. jenes, dass es ein widersinnig sei, dass arme Flüchtlinge sich teure Smartphones leisen können. Durch die Zuspitzung der Flüchtlingsproblematik in Europa gerät 'Gehen, ging, gegangen' zu einem überaus dokumentarischen Roman dieser Zeit und dieser Tage. Kein flammender Aufruf zur Weltverbesserung, kein vordergründiger Appell an das Mitleid des Lesers. Sondern ein literarischer Versuch des Verstehens, dass das Eigene und das Fremde zwei Seiten eines Zusammenhangs sind. Beeindruckende Berührungen.


© Parden

 
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