Rezension (4/5*) zu Every von Dave Eggers

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Every von Dave Eggers
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Besorgniserregende Zukunft(?)vision?

Der Nachfolger vom „Circle“ ist „Every“ – ein Konzern, der alles und jeden überwacht und trackt, der das Leben „verbessert“, in dem er Romane von ungewünschten Handlungsverläufen oder politisch inkorrekten Wortlauten befreit, der das Konsumverhalten optimiert – gern auch unter dem Deckmantel des Klimaschutzes – und die Menschen durch öffentliche Zurschaustellung ihres Fehlverhaltens – und sei es noch so klein – zu einer überlegeneren Version ihrer selbst machen will. Delaney Wells will diese Form der Unfreiheit und Überwachung nicht länger hinnehmen und bewirbt sich bei „Every“, um die Firma von innen heraus zu zerstören.

Hatte ich beim „Circle“ vor einigen Jahren schon das ungute Gefühl, dass alles, was Dave Eggers als (hoffentlich) dystopisches Szenario entwirft, gar nicht so weit ab von einer möglichen, zukünftigen Realität ist, so habe ich bei „Every“ den Eindruck, dass die Welt sich bereits unaufhaltsam in die hier aufgezeigte Richtung bewegt. Natürlich übertreibt Dave Eggers mit seinen Ideen und Darstellungen, selbstverständlich sind einige Einfälle, wie die von „Thoughts Not Things“ so abstrus, dass sie kaum je umgesetzt werden könnten – allerdings: in „Every“ finden sich auch viele Ansätze, die leider gar nicht so unwahrscheinlich klingen. In der Fülle, in der Eggers sie in seinem Roman detailliert vorstellt, muss man fast schon Angst vor der Kreativität des Autors selbst bekommen….


Eggers legt all diese fantastisch anmutenden Ansätze in die Hand seiner Figur Delaney, die hofft, irgendwann eine Idee zu präsentieren, mit der die Öffentlichkeit nicht mehr einverstanden ist, sodass „Every“ an seinen eigenen Taktiken zugrunde geht. Das Perfide an all diesen Innovationen ist, dass sie so, wie Delaney sie präsentiert, auch immer eine gute Seite zu haben scheinen, die sogar so weit reicht, dass man sich selbst durchaus bei der ein oder anderen Idee fragt, ob diese nicht vielleicht in modifizierter Version umgesetzt werden sollte.

Gleichzeitig hält Eggers uns einen schonungslosen Spiegel vor. In eindringlicher und überspitzer Art und Weise konfrontiert er den Leser mit einer Gesellschaft, der Entscheidungen abgenommen werden (dafür gibt es jetzt ein Programm), die zu regelmäßigem Sport verpflichtet ist (dafür gibt es ein Monitoring-Programm), ein Schlafziel zu erreichen hat (dafür gibt es ebenfalls ein Programm) und die z.B. ihren Wortschatz erweitern muss (auch dafür gibt es ein Programm). Die Menschen sind vollkommen abhängig von ihren Smart Devices, arbeiten sich täglich durch unzählige Likes, Smiles, Frowns und Kommentare und leben für ihre virtuelle Präsenz und ihr Social Media-Image. So viel Nähe an der jetzigen Zeit, vor allem auch was Shitstorms und Public Shaming angeht, gibt es selten.

Auch wenn Eggers Anliegen sehr durchsichtig ist und seine Kritik an großen Internet-Konzernen plakativ und überdeutlich daherkommt, kann man sich dem Roman nicht entziehen. Die Parallelen, die sich zu unserer Lebenswelt bereits finden, sind nicht von der Hand zu weisen – es reicht, dass das Szenario nicht vollkommen abwegig ist, um zumindest einen Denkprozess in Gang zu setzen. Dadurch entsteht trotz einiger Längen, in denen Delaneys Mission sich immer wieder im Kreis zu drehen scheint, ein spannendes und faszinierendes Porträt des „Every“-Konzerns – Eggers entwirft hier ein bis in die letzte Kleinigkeit durchdachtes Firmenuniversum, dessen Erschaffung ihm spürbar Freude bereitet. Auch wenn sich der Text bisweilen in Details verliert, wird der Nervenkitzel hochgehalten – lediglich im letzten Viertel gerät die Spannungskurve etwas aus dem Takt. Bei all der von „Every“ propagierten Transparenz erscheinen die Figuren vielfach undurchsichtig genug, um zusätzlich für Anspannung beim Leser zu sorgen. Insgesamt ein sehr spannender, lesenswerter und auf eine beunruhigende Weise unterhaltender Zukunftsroman, bei dem die Frage bleibt, wieviel von der Zukunft schon unsere Gegenwart ist.

von: Stefanie Hasse
von: Esther Paniagua
von: Kathryn Foxfield
 

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