Rezension Rezension (4/5*) zu Einsame Schwestern von Ekaterine Togonidze.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Einsame Schwestern von Ekaterine Togonidze
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Ein Leben, das berührt

Bereits das Cover dieses im Septime-Verlag erschienenen Buches ist besonders: Ein sehr ästhetisch anmutendes Foto zweier junger Frauen, der Kopf auf selber Höhe, die Körper aber in vertikal unterschiedliche Richtungen weisend. Die Augen verborgen, der Körper bedeckt, der Hintergrund dunkel. Unter dem Schutzumschlag ein schneeweißes Buch mit schwarzem Lesebändchen, das einem Trauerflor gleicht. Eine Aufmachung, die sehr gut zur erzählten Geschichte passen will.

Bereits ganz zu Anfang wird nämlich klar, dass die beiden Protagonistinnen tot sind. Ein gewisser Rostom wird von den Behörden informiert, dass seine Kinder verstorben sind und er noch ausstehende Gebühren zu zahlen habe. Jener streitet die Vaterschaft jedoch wiederholt ab. Die Geschichte Rostoms ist eine der drei Perspektiven dieses außergewöhnlichen Romans: Immer wieder wird über ihn, sein ärmliches Leben als Hochschullehrer und seine Beziehung zur Mutter der Zwillinge berichtet. Nach und nach ergibt sich daraus ein zusammenhängendes Bild über einen Mann, der Verantwortung scheut und wenig Sympathien gewinnt.

Die beiden weiteren Perspektiven liefern die Tagebucheinträge der Schwestern Lina und Diana. Sie schildern darin normale Alltagsgeschehnisse, aber auch sehr viele Dinge aus ihrem besonderen Gefühlsleben. Die beiden sind 16 Jahre alt und ab der Hüfte aufwärts zusammengewachsen, sie sind Siamesische Zwillinge. Diana schreibt ihr Tagebuch, um zu leben, um einen Beweis zu hinterlassen, dass sie gelebt hat (vgl. S. 9). Obwohl diese Schreiberei Lina anfangs suspekt ist, beginnt sie bald selbst damit, ein Tagebuch zu führen. Gerade von ihr bekommt man ein sehr detailliertes Bild, wie es sich für sie anfühlt, keine Privatsphäre zu haben und in einem Körper mit der Schwester gefangen zu sein.

Beide Schwestern unterscheiden sich grundsätzlich in ihrem Charakter: Diana ist lebenspraktisch, realistisch, während Lina die verträumtere und poetischere Schwester ist. Darüber hinaus haben sie auch in Bezug auf Bücher, Speisen und andere Vorlieben unterschiedliche Geschmäcker, was dem Leser durch die Tagebucheinträge sehr schnell klar wird. Es scheint unvorstellbar, dass sich zwei so unterschiedliche Menschen einen Körper teilen müssen. Obgleich sie sich sehr lieben und sich gegenseitig helfen und unterstützen, bleiben natürlich auch Konflikte nicht aus.

Die Mädchen leben gemeinsam mit ihrer Großmutter völlig abgeschieden in deren Haus. Es gibt noch Zaza, einen Mann, der ab und zu kommt, um für die kleine Familie Besorgungen zu machen – weitere Menschen haben die Schwestern noch nie gesehen. Sie wurden von der Großmutter unterrichtet, alles, was sie vom Leben außerhalb des Hauses wissen, haben sie von ihr oder aus dem Fernsehen erfahren.

Im Verlauf der Geschichte erkrankt die Großmutter schwer und verliert sukzessive ihre Kraft. Wie die Mädchen das schildern, geht dem Leser an die Substanz, weil absolut klar ist, dass die Teenager von der alten Dame abhängig sind und die Bedrohung immer greifbarere Formen annimmt.

Doch das Buch endet nicht mit dem Tod der Großmutter. Die Autorin bedient sich eines Kunstgriffes, der die Mädchen ins echte Leben spült. Ab dieser Stelle nimmt der Roman fast abenteuerliche Züge an, weil die mitunter grausamen Erlebnisse des Zwillingspaares für uns als Westeuropäer völlig irreal und fast mittelalterlich erscheinen. In Georgien gibt es in Bezug auf die Behandlung gehandicapter Menschen offensichtlich wenige Regeln oder Strukturen und damit deutlichen Nachholbedarf. Es wäre zu wünschen, dass dieser Roman einen Beitrag zur Verbesserung der Zustände dort leistet.

„Einsame Schwestern“ ist ein Buch, das von Beginn an unter die Haut geht, das man nicht in einem Zug durchlesen kann. Man braucht Verschnaufpausen. Die Autorin hat es verstanden, ihren fiktionalen Text so glaubwürdig zu gestalten, das er unglaublich lebensecht erscheint. Nach eigener Aussage hat sie sich das Britische siamesische Zwillingspaar Brittany und Abby Hensel als Vorlage für ihren Roman genommen, die Handlung aber eben in ihre eigene Heimat Georgien versetzt und natürlich mit mehr Spannungselementen ausgestattet. Dadurch allein, dass Diana und Lina nach dem Tod der Großmutter keinen Fürsprecher oder Beschützer mehr haben, sind sie der rauhen Wirklichkeit und dem Voyeurismus der Menschen ausgesetzt. Am Ende wiegt die erlittene Grausamkeit so schwer, das sie zu dem tragischen Ende führt…

Ich bewundere die schlüssige Komposition dieses Romans, der in einfachen Worten, die gefüllt sind mit Bildern und Poesie, eine Geschichte erzählt, die einen sofort gefangen nimmt und berührt. Dieser Roman macht auf ein Schicksal aufmerksam, über das sich normalerweise ausgeschwiegen wird, und der dadurch hoffentlich zu einer Sensibilisierung der Menschen führt, von der andere gehandicapte Menschen zukünftig profitieren können.

Wer sich nicht scheut, sich mit einem ernsten Thema auseinander zu setzen, für den kann ich eine volle Lese-Empfehlung für dieses außergewöhnliche Buch aussprechen.


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