Rachel Camerons Leben ist bestimmt von ihrer Arbeit als Lehrerin und den Erwartungen ihrer stark hilfsbedürftigen Mutter. Seit der Vater starb, gibt es außer ihr niemand, der sich um die kränkliche Witwe kümmern könnte. So scheint Rachels Schicksal besiegelt – als Mauerblümchen wird sie in der kanadischen Provinzstadt Manawaka ein gesellschaftlich kontrolliertes und ereignisloses Leben führen. Doch dann begegnet Rachel ihrem ehemaligen Schulfreund Nick wieder, der für die Sommermonate zu Besuch bei seinen Eltern ist. Er geht mit ihr aus und beginnt eine Affäre mit ihr. Und obwohl Rachel ahnt, dass diese Beziehung nicht von Dauer sein kann, stürzt sie sich in dieses Verhältnis, erfährt zum ersten Mal in ihrem Leben körperliche Liebe und beginnt langsam zu begreifen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen muss, wenn sie sich nicht von den äußeren Umständen erdrücken lassen will ...Kaufen
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Margaret Laurence (1926 – 1987) war eine bedeutende australische Autorin, deren Entdeckung wir in Deutschland dem Eisele Verlag zu verdanken haben. Bereits im vergangenen Jahr hat mich „Der steinerne Engel“ sehr beeindruckt, auch dieser neue Roman ist äußerst lesenswert.
Im Mittelpunkt steht die 34-jährige Rachel Cameron, die altjüngferlich mit ihrer hilfsbedürftigen Mutter zusammenlebt und in ihrem Heimatort, dem fiktiven kanadischen Städtchen Manawaka, als Lehrerin arbeitet. Rachel ist unzufrieden. Sie spürt, dass sie von ihrer Mutter ausgenutzt und instrumentalisiert wird, sie empfindet ihre Kollegin Calla als aufdringlich und ihren Chef als unsympathisch und distanzlos. Rachel weiß genau, dass sie sich dagegen wehren, sich dagegen auflehnen müsste. Sie erkennt menschliche Fallen, formuliert auch die richtigen Entgegnungen im Kopf - nur über die Lippen kommen sie ihr nie. Zu sehr ist sie in ihren gelernten Verhaltensmustern gefangen. Ihr zurückhaltendes, konfliktscheues und zutiefst unsicheres Wesen steht einer Auflehnung entgegen. Rachel kann nicht Nein sagen, stattdessen verstrickt sie sich in Notlügen oder trifft unliebsame Zusagen oder Verabredungen.
Die Ich-Erzählerin ist Rachel selbst. Sie schildert grundehrlich ihren Alltag und Szenen aus ihrem Leben. Sie lässt uns an ihren dezidierten Gedankenströmen teilhaben, wodurch sich die Diskrepanz zwischen Wollen und tatsächlichem Handeln verdeutlicht. Rachel geht sehr selbstkritisch mit sich ins Gericht, führt sogar imaginäre Streitgespräche mit Gott (christlich-biblische Motive durchziehen den Roman). Sie findet für ihr Umfeld treffende, spitzzüngige und sarkastische Vergleiche, über die man als Leser zuweilen lächeln kann. Man spürt Rachels Widerwillen. Sie hadert mit der Tatsache, dass sie nach dem Tod ihres Vaters nach Manawaka zurückgekehrt ist, dass sie im Gegensatz zu ihrer Schwester den Absprung nicht geschafft hat und ihr Leben festgefahren ist. In Rachels Situation spiegelt sich sehr genau das Frauenbild der 1960er Jahre wider. Damals wurde von Frauen Anpassung, Respekt und Unterordnung verlangt. Dagegen rebelliert Rachel – leider lange Zeit nur innerlich.
In den Ferien trifft sie den Jugendfreund ihres Bruders, Nick Kazlik, wieder, der auf dem elterlichen Bauernhof zu Gast ist. Beide haben dominante Eltern und die gefühlte Einsamkeit macht die beiden jungen Leute zu Schicksalsgefährten. Rachel genießt das Zusammensein mit Nick, bald treten tiefergehende Gefühle hinzu. Rachel kann sich endlich jemandem öffnen, lernt zu widersprechen. Über mehrere Stationen hat die titelgebende „Laune Gottes“ weitreichende Konsequenzen für ihr weiteres Leben, eine persönliche Entwicklung wird in Gang gesetzt…
Sprachlich und stilistisch ist der Roman eine Perle, zahlreiche passgenaue Sätze oder Metaphern zeugen von großer Lebensklugheit und Empathie. Laurence hat darüber hinaus eine komplexe Protagonistin geschaffen, deren Zwänge und innere Nöte man intensiv nachempfindet. Als Leser hat man einerseits Mitgefühl mit ihr, andererseits möchte man Rachel schütteln, weil sie doch so offensichtlich selbst weiß, wie sie sich aus der Zange befreien könnte. Schütteln möchte man auch ihre narzisstische Mutter, die ihre Krankheit gezielt einsetzt, um die Tochter zu manipulieren. Niemanden wird diese Geschichte kalt lassen. Sämtliche Beziehungsgeflechte werden intensiv ausgeleuchtet. Auch alle anderen Figuren werden mit Liebe zum Detail gezeichnet, Stereotype sucht man vergeblich, manche Nebenfigur weiß zu überraschen. Laurence muss eine unglaublich feinsinnige Beobachterin und Menschenkennerin gewesen sein. Sehr viel Psychologie und Authentizität schwingen in diesem Roman mit, der seine Geschichte ohne Sentimentalität oder Kitsch erzählt. Die Autorin bringt ihren Roman glaubwürdig über die Ziellinie. Manches mag einem dabei wenig zeitgemäß und antiquiert vorkommen. Man muss deshalb unbedingt bedenken, dass der Roman erstmalig bereits 1966 erschien, wo noch ein völlig anderes gesellschaftliches Werteverständnis vorherrschte. Auf diese Tatsache macht auch Margaret Atwood in ihrem Nachwort aufmerksam. Sie lobt die Kunstfertigkeit der Kollegin: „Eine Laune Gottes ist ein Buch wie ein Ei – es ist schlicht, selbstgenügsam und von eleganter Form und enthält die Essenz eines Lebens.“ (S. 278)
In diesem Sinn empfehle ich den Roman allen Lesern, die gerne gute, psychologisch ausgefeilte Romane mit streitbaren, vielschichtigen Figuren lesen. „Eine Laune Gottes“ eignet sich auch bestens für Lesekreise, Diskussionsstoff bietet er reichlich. Margaret Laurence ist wirklich eine Entdeckung und ich hoffe, dass der Eisele Verlag noch weitere Werke dieser fast vergessenen Autorin veröffentlichen wird – gerne wieder gekonnt übersetzt von Monika Baark und in einer wunderschönen, bibliophilen Ausstattung wie dieser. Lese-Empfehlung!
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