Rezension (4/5*) zu Eine Dame von Welt: Eine Salonerzählung von Henry James.

Renie

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19. Mai 2014
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Ehrbarkeit, Scheinheiligkeit und die feine Gesellschaft!

"Dieser Schriftsteller wird Sie nicht mehr aus den Fängen lassen, sobald Sie eine Zeile von ihm gelesen haben" Alexander Cammann, DIE ZEIT

Stimmt! Henry James hat mit seiner Novelle "Eine Dame von Welt" einen eindrucksvollen Beweis für seine Erzählkunst geliefert.

Worum geht es in dieser Erzählung?
Der reiche Amerikaner Littlemore trifft in einem Pariser Theater auf Mrs. Headway, eine alte Angebetete aus San Diego. Sie bittet ihn, als ihr Fürsprecher den Edelmann Arthur Demesne ihrer »Ehrbarkeit« zu versichern. Littlemore zögert: Sie hat ein skandalträchtiges Leben geführt, eine vorteilhafte Ehe ist ihre einzige Möglichkeit auf gesellschaftliche Anerkennung. Soll er aus alter Verbundenheit lügen? Eine schwierige Frage, denn von nun an zählen Littlemore und Demesne zu den regelmäßigen Gästen im Salon Mrs. Headways. Bestechend frisch erzählt Henry James von einer unerschrockenen Amerikanerin, die die zugeknöpfte Welt der europäischen Aristokratie aufmischt, um sich gegen alle Konventionen ihren Platz zu erkämpfen. (Quelle: Aufbau Verlag)

Diese Novelle besticht durch Henry James' Sprachstil. Wenn man bedenkt, dass diese Erzählung schon einige Jährchen auf dem Buckel hat - geschrieben wurde sie von James in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts - , ist man doch erstaunt, wie zeitlos seine Sprache ist. "Eine Dame von Welt" hätte auch in der heutigen Zeit geschrieben sein können. Die lebhafte und humorvolle Sprache sorgt für einen angenehmen Lesefluss. Die Seiten gleiten nur so dahin. Henry James ist ein Meister der Ironie. Er hat großes Vergnügen daran, seine Landsleute - sowohl Amerikaner als auch Briten - auf's Korn zu nehmen. Insbesondere die Affektierheit und Blasiertheit der englischen vornehmen Gesellschaft hat es ihm angetan.

"'Die Engländer sind so speziell, ich halte sie für ziemlich einfältig.'" (S. 29)

"Die Engländer sind furchtbar verschroben! Waterville gönnte sich im Geiste diesen Ausruf, zu dem er seit der Ankunft in England immer wieder seine Zuflucht nahm, wann immer sich vor ihm eine Lücke in der Logik auftat." (S. 86)

Die Charaktere in dieser Novelle bewegen sich alle in der sogenannten "feinen englischen Gesellschaft" - einige sind mittendrin, andere bewegen sich am Rand und wollen tiefer rein. Aber die "feine englische Gesellschaft" scheint ein in sich geschlossener Mikrokosmos zu sein. Wer Zugang zu diesem Mikrokosmos erhalten möchte, muss ganz bestimmte Kriterien mit sich bringen. In Adelskreisen geboren zu sein, ist gleichbedeutend mit einer "Wild Card". Hier gehört man automatisch dazu. Die britische Staatsangehörigkeit zu besitzen, ist nicht unbedingt notwendig, erleichtert den Zugang doch ungemein. Menschen anderer Nationalität, insbesondere Amerikaner, werden höchstens in den elitären Kreis aufgenommen, wenn sie amüsant sind und zur Unterhaltung der Gesellschaft beitragen können. Dann bleibt noch das "Einheiraten in die Gesellschaft" - ein Weg, für den sich Mrs. Headway entschieden hat. Vom Heiraten versteht sie etwas, schließlich wäre das nicht ihre erste Ehe. Ihre bisherigen Ehemänner haben sie immer ein Stückchen weiter in ihrem Streben nach Gesellschaftsfähigkeit gebracht. Warum soll es ihr diesmal nicht auch gelingen? Wenn da nur die Sache mit der "Ehrbarkeit" nicht wäre ...

"Es war unmöglich, nicht gerührt zu sein; sie meinte, was sie sagte, wirklich ernst. Die Menschen ändern nicht ihr Naturell, aber sie ändern ihre Sehnsüchte, ihre Ideale, ihr Streben. Diese zusammenhanglose leidenschaftliche Beteuerung bestätigte ihm, dass sie buchstäblich danach gierte, ehrbar zu sein. Doch wie Littlemore einst in Paris gegenüber Waterville bemerkt hatte, war die arme kleine Frau, was immer sie anstellte, dazu verdammt, nur teilweise gesellschaftsfähig zu sein." (S. 124)

Die zentrale Frage in James' Novelle ist die, nach der Ehrbarkeit von Mrs. Headway. Alle ahnen, dass es damit nicht weit hergeholt ist. Der Einzige, der - abgesehen von Mrs Headway - die Wahrheit kennt, hält sich bedeckt. Bemerkenswert ist an dieser Stelle die Scheinheiligkeit der Männerwelt. Die Männer liegen Mrs. Headway zu Füßen, jedoch nur, wenn es keiner sieht. "Mann" sucht ihre Nähe, jedoch nur fernab von der "feinen Gesellschaft". Und gleichzeitig verdammen die Männer Mrs. Headway aufgrund ihrer Vergangenheit. Sie sind sich einig, dass Mrs. Headway auf gar keinen Fall zur Gesellschaft gehören darf. Alles andere wäre ein Skandal.

"Waterville wollte, dass sie blieb; wenn er sie ansah, fühlte er sich, als betrachte er ein bezauberndes Bild. Ihr langes Haar mit den schönen dichten Locken war von einem Schwarz, wie es heute selten geworden ist; ihr Gesicht besaß die Frische einer weißen Blüte; ihr Profil, wenn sie den Kopf drehte, war so rein und makellos wie der Umriss einer Kamee." (s. 15 f.)

Fazit:
Eine humorvolle Geschichte über Ehrbarkeit, Scheinheiligkeit und die sogenannte feine Gesellschaft. Ich habe diese Novelle mit großem Vergnügen gelesen. Insbesondere der zeitlose Sprachstil von Henry James hat es mir dabei angetan.

© Renie