Rezension Rezension (4/5*) zu Ein Winter mit Baudelaire: Roman von Harold Cobert.

parden

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13. April 2014
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49
Niederrhein
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Es wird Herbst in Paris, als Philippe den Boden unter den Füßen verliert. Nach der Trennung von seiner Frau muss er die gemeinsame Wohnung verlassen, und der Kontakt zur Tochter wird ihm verwehrt. Als wenig später sein Arbeitsvertrag nicht verlängert wird, ist das der letzte Schritt, der ihn in den Abgrund stürzen lässt. Das Leben auf der Straße droht, ihm den Rest seiner Würde zu nehmen. Doch dann begegnet er Baudelaire, der ihn – mit beständigem Optimismus und treuem Hundeblick – auf vier Pfoten zurück ins Leben führt, ihm den Mut für einen Neuanfang gibt. Und auf einmal scheint der Tag, an dem er seine Tochter wieder in die Arme schließen kann, gar nicht mehr so fern …


"Auf der Straße ist es menschenleer. Dabei ist die Luft noch mild. Die Abende und Nächte bleiben frisch, aber die laue Lichtfülle des Tages klingt immer deutlicher in ihnen nach. Es ist ein Abend im Mai, Anfang Mai, eine zarte Dämmerung. Der Sonntag neigt sich dem Ende zu. Die Schatten werden länger, sie strecken und räkeln sich in der Melancholie eines Wochenendes, das diesem Vorort mit seinen kleinen Einfamilienhäusern am Stadtrand von Paris den Rücken kehrt." ( S. 9)


Dieses Zitat stammt vom Beginn des Romans und umschreibt den Abend, an dem Philippe zum letzten Mal seine kleine Tochter Claire zu Bett bringt und ihr ihre Lieblingsgeschichte erzählt. Danach nimmt er seinen Koffer, der bereits gepackt an der Tür steht, und geht. Seine Frau wirft ihn aus der Wohnung, ab diesem Maiabend werden ihre Wege getrennte sein. Und Philippe tritt seinen neuen Weg an, von dem schnell klar wird, dass es einer ist, der immer weiter abwärts führt, und dass Philippe keine Chance hat, auch nur irgendwo abzubiegen.

In Paris sind freie Wohnungen rar und kaum bezahlbar, und Philippe mit seinem Zeitvertrag und ohne vorweisbare Bürgschaft hat keine Chance, eine neue Unterkunft zu finden. Als dann der Arbeitsvertrag auch noch nicht verlängert wird, hat Philippe das Gefühl, dass ihm der Boden ganz unter den Füßen weggezogen wird. Er landet in billigen Hotels, solange das Geld reicht - danach bleibt ihm nur noch die Straße. Eine Umhängetasche mit ein paar wenigen Dingen ist alles, was ihm noch geblieben ist. Er lebt von der Hand in den Mund und versucht, sich den letzten Rest seiner Würde zu erhalten. Doch der Winter kommt, und Philippe beginnt zu ahnen, wie hart das Leben tatsächlich sein kann.


"Dazu die Geräusche, eine Vielfalt von Geräuschen - Autos, Passanten, knallende Türen, Absätze, die vom Asphalt der Bürgersteige widerhallen, Gespräche, die näher kommen und sich entfernen, auf seiner Höhe angelangt, manchmal verstummen -, alles und zugleich nichts, doch es reizt denGehörsinn, weckt die Aufmerksamkeit, hält ihn in einem unsteten, brüchigen Halbschlummer gefangen. Als fahl der Morgen anbricht, hat er nur ein paar Stunden geschlafen, Stunden so zersplittert wie zerschlagenes Glas." (S. 125)


Ohne festen Wohnsitz verwehrt ihm seine Frau zudem den Umgang mit seiner Tochter, was Philippe härter trifft als alles andere - und schließlich reißen auch noch die letzten Kontakte zu seinem altem Leben ab. Doch als er vollends ins Elend zu stürzen scheint, läuft ihm der kleine Streuner Baudelaire zu, wodurch das Leben ganz allmählich wieder Farbe erhält.

Der Leser begleitet Philippe auf seinem Weg in die Obdachlosigkeit, setzt sich mit ihm den abwertenden, verächtlichen Blicken der Mitmenschen aus und spürt die wachsende Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Immer wenn das Gefühl entsteht, schlimmer könne es jetzt nicht mehr kommen, dreht Harold Cobert die Schraube der Abwärtsspirale gnadenlos noch ein Stück weiter. Die kurz gehaltenen Kapitel werfen schattenlose Spotlights auf das Leben Philippes - und bezaubern gleichzeitig durch einen poetisch-zärtlichen Schreibstil, der von viel Einfühlungsvermögen und herzerwärmendem Charme zeugt.

Kein Roman schwerer Hoffnungslosigkeit, sondern eine zutiefst menschliche Erzählung um die Eigenwilligkeit des Lebens, um die Zerbrechlichkeit des Glücks - und um das unbezahlbare Geschenk, in den schwersten Stunden nicht in Einsamkeit zu versinken.

Für mich eine wundervolle Entdeckung...


© Parden

 
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