Sie kennen sich seit der Kindheit und beginnen gerade, ihre eigenen Wege zu gehen, als plötzlich einer von ihnen als Mörder festgenommen wird. Er soll seinen Onkel aus Habgier erschlagen haben. In einem schier endlosen Indizienprozess wird das Unterste zuoberst gekehrt. Die Freunde kämpfen für den Angeklagten, denn er kann, er darf kein Mörder sein. Doch als 15 Jahre nach dem Urteil eine Journalistin sich der Sache noch mal annimmt, stellt sich die Frage der Loyalität wieder neu.
Kaufen
Kaufen >
Poschenrieders Roman ist eigentlich keiner. Es ist die Notizensammlung einer namentlich nicht genannten Journalistin, die an einer Dokumentation über einen fünfzehn Jahre zurückliegenden Mord arbeitet. Verurteilt wurde der (damals) junge Neffe des Getöteten - mit dem Attribut "besondere Schwere der Schuld", also zu lebenslanger Haft. Gestanden hat er die Tat nicht.
"Alle Gespräche, mitgeschrieben und Transkripte von Aufnahmen, die Mails, die Memos, das alles ausdrucken, die bekritzelten Zettel, Servietten, Zeitungsausdrucke dazu und in Reihenfolge bringen. (...) Struktur, Struktur, Struktur." So beginnt der Roman, der keiner ist. Das zusammengetragene Material der Journalistin besteht fast ausschließlich aus mitgeschriebenen oder transkribierten Kommentaren der Jugendfreunde des Verurteilten, zwei Frauen und drei Männern. Zusammen bilden sie eine Clique, die von der Kindergarten- bzw. Grundschulzeit her befreundet ist und immer Kontakt gehalten hat, wenn auch mit Unterbrechungen, nachdem sie beruflich unterschiedliche Wege eingeschlagen haben.
Im Wechsel, oft nur in wenigen Sätzen und hin und wieder unterbrochen von kurzen "Memos" der Journalistin, berichten der Anführer Sebastian, der forsche Till, der besonnene Benjamin, die treusorgende Emilia und die ruppige Sabine von ihren Kindheitserlebnissen, gemeinsamen Unternehmungen, der Schulzeit. Die Erinnerungen passen nicht immer zusammen, es entsteht ein facettenreiches Bild. Jener Onkel des Verurteilten, der in seiner Wohnung brutal erschlagen wurde, war ein schwerreicher Junggeselle, übergriffig und autoritär gegenüber seinem Neffen; mal versprach er Geld, mal drohte er mit Enterbung. Motiv und Gelegenheit zur Tat waren also vorhanden, ein anderer Verdächtiger nicht in Sicht - nach Ansicht der Freunde waren Polizei und Staatsanwaltschaft von Anfang an befangen und nicht gründlich genug. Und so taten sie sich zu einer beispiellosen Kampagne zur Rettung ihres Freundes vor der Justiz zusammen. Sie verteilten Handzettel, suchten Zeugen, gaben Solidaritätsbekundungen ab. "Wir haben uns angesehen, und jeder einzelne von uns wusste: er nicht", bemerkt Benjamin. Sebastian: "Als bester Freund war es für mich nicht nur eine Pflicht, sondern eine Ehre." Till: "Es geht um die Haltung."
Die "Haltung" täuscht die fünf Freunde lange Zeit darüber hinweg, dass sie sich keineswegs so einig sind, wie sie sich anfangs geben. Der Prozess dauert zwei zermürbende Jahre, und die aufkommenden Zweifel der Freunde, die sie teilweise voreinander verbergen, die Ungeduld und das Erlahmen der Kräfte werden in den abwechselnden Kommentaren der Freunde einfühlbar deutlich. Die Berichte sind übersichtlich in drei Zeiträume eingeteilt: vor, während und nach dem Prozess. In wenigen Abschnitten kommen auch der Prozessanwalt des Verurteilten und schließlich er selbst zu Wort.
Man kann, wenn man will, dieses Buch als Krimi lesen und versuchen, die vielen kleinen Bausteine zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenzusetzen. Das ist gar nicht so einfach, denn die Äußerungen der fünf Freunde sind widersprüchlich, und vermutlich sind sie auch nicht in allen Einzelheiten immer ehrlich. Gerade das macht aber den Reiz des Buches aus, und so tut man besser daran, es als Psychogramm zu lesen - sowohl der fünf Einzelpersonen als auch der Gruppe, die ihre eigene Energie und Dynamik entwickelt, oft unabhängig vom Willen der Einzelnen. Wie weit geht die "Freundespflicht"? Gilt sie unter allen Umständen und wie befangen macht sie? Und gilt sie wirklich "ein Leben lang"? Der Roman ist - trotz des auf den ersten Blick verwirrenden Aufbaus mit den vielen kurzen und unverbundenen Abschnitten - gut strukturiert und nicht schwer zu lesen. Die fünf Erzählstimmen sind nach kurzer Eingewöhnung gut auseinanderzuhalten. Trotzdem - "Ein Leben lang" ist ein listiges, ein vertracktes Buch, in dem der Teufel im Detail steckt und die Auslassungen oft genauso wichtig sind wie das Gesagte. Bis zum Schluss kommen zum Gesamtbild immer neue Mosaiksteinchen hinzu, so dass man am Ende mit gewachsenem Leseverständnis eigentlich gleich wieder von vorne beginnen möchte. Ein sehr originelles Buch mit Tiefgang, das viel Nachdenk- und Diskussionsmaterial anbietet.
Lesern von "Ein Leben lang" gefiel auch...
Dieser Beitrag wurde...
von: Hanna Bervoets
Zu den Elefanten: Novelle
von: Peter Karoshi
Tschick
von: Wolfgang Herrndorf