Rezension Rezension (4/5*) zu Dieses ganze Leben von Raffaella Romagnolo.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Dieses ganze Leben von Romagnolo, Raffaella
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Hinter den Fassaden

Paola ist 16 Jahre alt. Sie fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut, empfindet sich als hässlich und fett. Seitdem ihre Mitschüler ihr einen üblen Cyber-Streich gespielt haben, zieht sie sich innerlich zurück, hält nur noch die Fassade nach außen aufrecht.
„Das Warten dauert drei Minuten und zehn Sekunden, aber in Wirklichkeit dauerte das Warten viel länger, meiner Rechnung nach mindestens zwölfmal so lang, mal drei macht das sechsunddreißig Minuten reale Demütigung, verdichtet auf drei Minuten und zehn Sekunden virtuelles Mobbing.“ (S. 15)

Dass Fassade wichtig ist, wurde ihr im Elternhaus beigebracht. Die privilegierte Familie lebt in einer schicken Villa, der Vater ist Inhaber und Chef einer führenden Firma in der Baubranche. Die überaus attraktive Mutter beschäftigt sich viel mit ihrem Körper, versucht auch auf Paola einzuwirken, ihren BMI zu reduzieren. Zu diesem Zweck soll sie auch jeden Tag ausgedehnte Spaziergänge mit ihrem gehandicapten 12-jährigen Bruder Richi unternehmen, der im Rollstuhl sitzt und ebenfalls nicht dem Familienideal entspricht. Auf diesen Ausflügen entfernen sich die beiden Heranwachsenden von Zuhause. Sie gehen „auf die andere Seite“: jenseits der Unterführung beginnt das Arbeiterviertel mit seinen Wohnblöcken, seinen Werkhallen, seinem Mief.
„Wir sprechen nur ab und zu, wenn uns etwas Lustiges einfällt. Es ist unsere tägliche Happy Hour, unsere Stunde Freigang, die Geheimtür, der Fliegende Schlüssel, der uns woandershin bringt, der doppelte Boden des Koffers, der Passierschein, der Tarnumhang, das Simsalabim, das die Schatzhöhle öffnet. Na gut, ich übertreibe. Aber nicht zu sehr.“ (S. 54)

Dort, in einem kleinen Park begegnen sie Antonio. Paola kennt ihn aus der Schule, er ist zwei Jahre älter als sie. Antonio ist anders, weniger oberflächlich als die anderen. Er interessiert sich für Paola und behandelt auch Richi interessiert und voller Achtung. Da sowohl Richi als auch Antonios Bruder Filippo begnadete Schachspieler sind, kommt es zu weiteren Verabredungen.

Was sich jetzt entspinnt, ist weit mehr als ein Entwicklungsroman. Paola, die Ich-Erzählerin, hat einen scharfen, unverstellten Blick auf ihr Umfeld. Sie ist klug, erzählt aber nicht stringent, sondern schweift ab – genau in dem Maße, wie ihre jugendlichen Gedanken fließen. Sie flechtet frühere Erlebnisse und Beobachtungen ein, zieht eigene Schlussfolgerungen. Man bekommt als Leser ein Bild von ihrer dysfunktionalen Familie, in der nur von der Oma sowie der Haushälterin Nina Liebe und Zuwendung auszugehen scheinen. Innig zugetan sind sich die Geschwister untereinander - trotz ihrer üblichen Streitereien.
Eine weitere Bezugsperson Paolas ist Marta, die Tochter vom Geschäftsfreund ihres Vaters: „ Du sprichst zwei Minuten mit ihr und begreifst sofort, dass sie Weltmeisterin im schönen Schein ist, ein Destillat aus Oberflächlichkeit, die Quintessenz des Snobismus.“ (S. 111) Welch eine Klarheit spricht aus diesen Worten!

Paola spürt, dass leuchtende Fassaden trügerisch sind, dass vieles in ihrem nächsten Umfeld nicht so ist, wie es scheint. Sie bemüht sich dabei um Wahrheit und Aufrichtigkeit, vorgetragen in dem teilweise schnoddrigen, provozierenden Ton Pubertierender, deren Direktheit umwerfend ist. Das wirkt sicher auch deshalb so authentisch, weil Paola ihre Erzählung an die imaginäre Freundin Carmen richtet. Paolas Perspektive ist zwar subjektiv und damit unzuverlässig, jedoch trotzdem sehr glaubwürdig. Die Dialoge und Konflikte wirken nicht übertrieben. Hinzu kommt, dass Paola eine starke Figur und ist kein Opfer-Typ.

Es tun sich Abgründe und Brüche in der Vergangenheit einzelner Familienangehöriger auf, die dem Roman eine weitere Spannungsebene verleihen – nicht immer völlig klischeefrei. Die Fassaden bröckeln an vielen Orten, das Schweigen bricht. Gegenpart ist zunächst Paolas wachsende Freundschaft mit Antonio. Allerdings traut sie seinen positiven Signalen aufgrund ihres miserablen Selbstbewusstseins nicht – ein übliches Dilemma Heranwachsender, das leicht zu Missverständnissen führen kann. Richi findet in Filippo nicht nur einen Schachpartner, sondern auch jemanden, der ihn akzeptiert, so wie er ist.

Der Roman hat mich über weite Strecken begeistert! Das Setting, die Sprache der Autorin und wie sie sich in ihre Figuren sehr differenziert einfühlt: Grandios. Der Roman verfällt nicht der Versuchung, eine gefällige Liebesgeschichte zu erzählen. Es gibt so viel mehr an Handlung. Schließlich ist dieses ganze Leben kompliziert - und zwar in jedem Alter. Alles baut aufeinander auf und hinterlässt Spuren: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Warum also keine fünf Sterne? Weil mich persönlich das Ende etwas enttäuscht hat. Romagnolo hat den Roman vielschichtig angelegt, viele tiefgründige Themen angerissen. Am Ende jedoch passiert zu vieles zu schnell, mit zu vielen Worten, zu viel Getöse. Zu viel Veränderung in zu kurzer Zeit. Aber das ist wohl absolute Geschmackssache. Ich hätte mit weniger Klarheit und für meine Begriffe mehr Realismus in der Entwicklung der Figuren gut leben können. Andere Leser vielleicht nicht. Erwähnenswert sind noch zahlreiche Bezüge zu klassischer Literatur und zeitgenössischen Filmen.

Auf alle Fälle ist „Dieses ganze Leben“ ein äußerst lesenswerter Roman, über den sich jeder sein eigenes Bild machen sollte. Unbedingte Leseempfehlung!