Rezension Rezension (4/5*) zu Die Wunder von Little No Horse: Roman von Louise Erdrich.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Ojibwe-Leben in Little No Horse

Louise Erdrich hat mit „Die Wunder von Litte No Horse“ einen Roman geschrieben, in dem sie uns – wie üblich in Ihren Werken in die Welt der Indianer im modernen Amerika eintauchen lässt. Sie selbst hat indianisch-deutsche Wurzeln und empfiehlt sich schon dadurch als Vermittlerin zwischen sehr verschiedenen Welten. So dienen ihre Bücher in meiner Lesart dazu, die Welt dieser an den Rand des Weltgeschehens gedrängten Menschen literarisch aufzuarbeiten und ihnen ein Denkmal zu setzen. In „Die Wunder von Little No Horse“ betrachtet sie die Welt der Ojibwe durch die Augen eines „Hinzugekommenen“, hinter dem eine besondere Geschichte und ein besonderes Geheimnis steckt. Es handelt sich um den Priester Father Damien, der in diesen Außenposten der Welt entsandt ist, um das Christentum unter den Ojibwe einzuführen bzw. zu pflegen. Doch dieser Priester ist nicht das, was er zu sein scheint. Denn dessen Identität hat in den Wirren einer Überschwemmungskatastrophe die frühere Nonne Agnes angenommen genauso wie seine Aufgaben innerhalb des Reservats. Dabei steht sie/er von Beginn an der Aufgabe sehr skeptisch gegenüber und sieht ihre Aufgabe nicht vorwiegend darin, unter allen Umständen vom Christentum zu belehren. Sie/ihn interessiert viel mehr die mögliche Vielfalt, die sich bietet durch Vermischung und Verschmelzung zweier auch religiöser Welten.

„Agnes‘ Bemühungen um die Ojibwe-Sprache, ihre Auseinandersetzung damit, begannen ihre Gebete zu verändern. Denn ihr gefiel das Ojibwe-Wort für das Beten, anama’ay, in dem eine große Aufwärtsbewegung zum Ausdruck kam. Die Dreifaltigkeit sprach sie jetzt als Vierheit an und wandte sich an die Geister jeder Himmelsrichtung – an jene, die in den vier Ecken der Welt hausten. Wenn sie betete wurde sie für den Augenblick zum Zentrum dieser Konstellation. Und dann erlaubte sie sich, zu zerfallen. Sich in die Bestandteile der Schöpfung aufzulösen, damit Gott die Bruchstücke aufhöbe und neugierig hin und her drehte und ins Licht hielte.“

Ein langes, fast überlanges Leben lebt Agnes so als Damien das Leben eines Mannes und Priesters. Sie beobachtet dabei die Menschen im Reservat und Erdrich erzählt in ihrem Buch über diesen Zeitraum hinweg eine ganze Reihe von Geschichten aus dieser Gruppe. Geschichten rund um Traditionen, Familienfehden, Lieben und Toden. Als auch Agnes/Damiens Leben sich dem Ende zuneigt, stellt sich die Frage, wie ihr/sein Geheimnis ans Licht kommen wird und was es für die Menschen des Reservats bedeuten wird. Für den Leser ist der undramatische Ausgang dieses Handlungsstranges dann zum Ende hin keine Überraschung mehr, denn lange schon ahnt man in der Lektüre, dass längst alle oder zumindest die meisten Bescheid wissen. Es sie aber überhaupt nicht stört, dass sich da eine Frau unter dem Gewand ihres Priesters verbirgt. Zwischen all den Lebensgeschichten der Reservatsbewohner ist dieses Geheimnis nur eines von vielen, ein eher unbedeutendes Detail, das gern von allen verborgen gehalten wird.
Mein Fazit:
Die bunten Geschichten aus dem Reservatsleben der Ojibwe und die Irrungen und Wirrungen in den erzählten Lebensläufen enthalten einige große und bewegende Momente. Mir ist diese Welt aber dennoch nicht wirklich nahegekommen. Eine kühle, relativ große Distanz blieb die ganze Zeit erhalten. Viele aufgegriffene Handlungsstränge bzw. Themen sind für mich nicht auserzählt, sondern nur angerissen worden. Da ist zum Beispiel das Innenleben der Agnes/Damien und die inneren Konflikte, die sie/er in diesem geheimen Leben durchleben muss. Da ist Damiens Aufgabe der christlichen Missionierung und die dahinter liegende Sinnfrage sowie deren Folgen und Auswirkungen. Beides Themen, die ich persönlich gern weiter im Vordergrund des Erzählten gesehen hätte.
Die Lektüre hat mir deshalb gut getan und gut gefallen, hat aber auch immer irgendwie eine Leere zurückgelassen, die ich mir selber nicht ganz erklären kann. Ich vergebe deshalb 4 recht dünne Sterne.