Rezension Rezension (4/5*) zu Die Wunder von Little No Horse: Roman von Louise Erdrich.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Lebenslinien...

Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Vater Damien Modeste sich ganz in den Dienst seines geliebten Stammes der Ojibwe im abgelegenen Reservat Little No Horse gestellt. Nun da sein Leben zu Ende geht, muss er fürchten, dass das große Geheimnis seines Lebens doch noch ans Licht kommen könnte: er ist in Wahrheit eine Frau. In ihrem bislang nichts ins Deutsche übertragenen Meisterwerk erkundet Louise Erdrich das Wesen der Zeit und den Geist einer Frau, die sich gezwungen fühlte, sich selbst zu verleugnen, um ihrem Glauben dienen zu können.

2001 erschien dieser Roman bereits im Amerikanischen, so dass es sich hierbei um ein frühes Werk der Autorin handeln dürfte. Nachdem ich von 'Das Haus des Windes' so begeistert war, wollte ich unbedingt noch ein weiteres Werk von Louise Erdrich lesen - und bin froh, dass ich die Gelegenheit dazu bekam.

Ich muss gestehen, dass ich anfangs etwas ernüchtert war, als ich das Buch aufschlug. Ein gewaltiger Stammbaum erhob sich da auf einer eng bedruckten Doppelseite, und eine zweifelnde Stimme meldete sich, ob es mir wohl gelingen würde, diese Personen alle auseinanderzuhalten. Nun, es gelang mir nicht. Aber irgendwann störte es mich nicht mehr, denn die wichtigsten Personen erhalten in diesem Roman durchaus einen angemessenen Rahmen.

Die Handlung spielt in dem fiktiven Reservat 'Little No Horse', abwechselnd erzählt in der Gegenwart, in der der hochbetagte Father Damien von seinem Leben und dem seiner Schützlinge berichtet, und der Vergangenheit, in der episodenhaft einzelne Erinnerungen an verschiedenste Ereignisse und Personen aneinandergereiht werden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass hier keine konkrete Geschichte erzählt wird, aber es gelingt Louise Erdrich, einen bildhaften Eindruck vom Leben im Reservat zu vermitteln.

Father Damien, der zu Missionarszwecken im Reservat gelandet ist, unterstützt durch die Schwestern des kleinen Klosters, entpuppt sich als milder, interessierter und verständnisvoller Zeitgenosse, dem es vor allem darum geht, die Indianer kennenzulernen. Im Verlauf der Erzählung erfährt Damien gemeinsam mit dem Leser viel über den indianischen Alltag im Reservat, über die Sprache, die Identität, die Nähe zur Natur, Traditionen und überlieferte Mythen - und die Folgen der Missionierung und des Landraubs durch die Weißen für die Ureinwohner.

All dies geschieht mitnichten mit erhobenem Zeigefinger, eher mit dem Hintergrund, die Zusammenhänge darzulegen - als etwas, das sich nicht mehr ändern lässt, wobei dem Verlorenen durchaus hinterher getrauert werden darf. Die Indianer im Reservat haben sich an die Lebensbedingungen angepasst - oder geben sich beispielsweise dem Alkohol hin. Father Damien ist kein dogmatischer Priester - er sorgt vielmehr dafür, dass eine Annäherung möglich ist, ein Nebeneinander beider Kulturen, ein Miteinander - bis hin zu tiefen Freundschaften. Ungewöhnlich für die katholische Kirche, doch Fahter Damien ist auch kein gewöhnlicher Priester. Er birgt selbst ein Geheimnis, das er sorgfältig hütet, denn ansonsten würde sich alles ändern...

Obschon die Figuren in dem Roman sehr auf Distanz bleiben und ihre Darstellung häufig gar etwas Absurdes hat, übertrug sich Damiens Verständnis für das Verhalten und die Eingenarten der Bewohner des Resarvats allmählich auch auf mich, und der ein oder andere Charakter schlich sich dann doch unbemerkt ins Herz. Am Ende war ich tatsächlich tief berührt, was ich in dem vor wunderschönen Schilderungen und humorvollen Einlagen strotzenden Roman überhaupt nicht erwartet hatte.

Alles in allem ein toller Roman, der mich wie in einem Traum durch die verwobene Handlung gezogen hat und der eine Lanze bricht für ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Lebensentwürfen, Traditionen und Zugehörigkeiten. Schon mit diesem frühen Werk beweist Erdrich für mich ihr Können. Ich bin wirklich neugierig auf ihre weiteren Romane...


© Parden

 

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