Rezension (4/5*) zu Die Stille des Meeres von Donal Ryan

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.488
50.098
49
Buchinformationen und Rezensionen zu Die Stille des Meeres von Donal Ryan
Kaufen >
Menschliche Schicksale lose verknüpft

Wer einen Roman im Sinne einer fortlaufenden, ununterbrochenen Handlung sucht, könnte hier enttäuscht werden. „Die Stille des Meeres“ besteht nämlich aus drei ähnlich langen Abschnitten, die jeweils mit dem Namen eines Protagonisten überschrieben sind. Erst im vierten Teil ergeben sich die Zusammenhänge. Das sollte den Leser grundsätzlich nicht abstoßen.

Farouk ist Christ und Arzt in Syrien. Er und seine Familie leben relativ aufgeklärt und modern. Doch der brutale Krieg rückt näher und die Taliban scheinen die Oberhand zu gewinnen. Ein Schleuser spricht Farouk an und macht ihm klar, wie dramatisch sich die Zukunft insbesondere für seine Frau und Tochter demnächst verändern kann. Das Ehepaar macht sich die Entscheidung nicht leicht, sie hoffen, bangen und wägen ab, es ist schließlich nicht leicht, die Heimat zu verlassen. Als schließlich ein Junge auf dem Marktplatz gekreuzigt wird, gibt das den Ausschlag für die Flucht nach Europa. Es ist sehr bewegend, dem schweren Entscheidungsprozess der Familie beizuwohnen. Leider verläuft die Reise ganz anders als geplant…

Lampy ist ein Außenseiter Anfang 20. Er lebt in einer irischen Kleinstadt mit seiner etwas verträumten Mutter und dem schrulligen Großvater zusammen. Lampy hat sein Studium abgebrochen und arbeitet zurzeit als Aushilfe in einem Seniorenheim. Es belastet ihn, nicht zu wissen, wer sein Vater ist, denn darüber schweigt sich die Mutter aus. Ebenso ist Lampys Verhältnis zu Frauen gestört. All das macht ihn unzufrieden, so dass er oft über sein Leben nachdenkt und Möglichkeiten eruiert, um es zu verändern oder seinen Platz in der Welt zu finden…

John ist ein Stinkstiefel, der aus einem zunächst nicht näher bezeichneten Grund seine Lebensbeichte ablegt, indem er die Liste seiner Sünden der Reihe nach aufzählt. Auf tragische Weise hat er sehr früh seinen Bruder Edward, der der Liebling der Eltern war, verloren. Das allein kann man aber nicht als Rechtfertigung für seine Taten gelten lassen. John drangsaliert bereits als Kind die Schwachen, er lügt und betrügt, ohne die daraus resultierenden Nachteile für die Betroffenen zu berücksichtigen. Er geht sprichwörtlich über Leichen. Erst in seiner Lebensmitte lernt er die Liebe kennen, etwas, das ihn zeitweise zu einem besseren Menschen macht…

Der letzte Abschnitt ist mit „Seeinseln“ überschrieben. Auf diesen letzten 45 Seiten wird ein Zusammenhang zu den vorhergehenden Abschnitten hergestellt. Donal Ryan behält auch hier seinen Stil bei. Es gibt keine scheppernde Auflösung, keinen gordischen Knoten, der entwirrt wird. Ryan stellt die Verbindungen her, ohne große, unwahrscheinliche Volten zu drehen. Die Welt ist letztlich klein, es könnte sich tatsächlich alles so wie beschrieben zugetragen haben. „Die Stille des Meeres“ ist ein ruhiges, kraftvolles Buch, das nachdenklich macht und nachhallt. Eines, das völlig unterschiedliche Charaktere offenlegt und dem es gelingt, gerade durch das Unspektakuläre zu fesseln.

Ryan gibt uns einen intensiven Einblick in das Innenleben seiner Figuren, er verknüpft deren Gegenwart mit der Vergangenheit, so dass man Verständnis für die Handlungsweisen aufbringen kann, ohne sie zwangsläufig gutheißen zu müssen. Es geht um Familien, Wurzeln und Herkunft, um Verluste, Schmerz und wie man damit umgeht.

Dieses ist mein erster Roman von Donal Ryan. Mich beeindrucken sein Schreibstil sowie seine vielschichtige Auseinandersetzung mit den Protagonisten Farouk, Lampy und John. Keiner von ihnen ist perfekt, ihre Schwächen werden offenkundig. Was hat sie zu dem gemacht, was sie sind, lautet eine der zentralen Fragen.

Aus meiner Sicht ist „Die Stille des Meeres“ ein sehr gelungenes Buch. Jede Episode für sich hat Tiefe, ist spannend zu lesen. Ryan vermag es, seinen Stil an die Perspektiven der Protagonisten anzupassen. Er streut, wo es passt, schöne Textstellen und Metaphern ein, was mir insbesondere im ersten Abschnitt sehr positiv aufgefallen ist. Nach Beendigung des Buches muss man das Ende erst einmal auf sich wirken lassen. Es macht gute Literatur aus, dass das Ende nicht voraussehbar ist.

Insofern wünsche ich diesem intensiven Episodenroman aus Irland möglichst viele Leser und empfehle ihn gerne weiter.

 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.702
22.127
49
Brandenburg
Wunderschön geschrieben, sogar mit Fremdwörtern ;)
Da habe ich Donal Ryan doch mit Dorit Rabinyan verwechselt. Na, egal, ich hab genug Bücher. Ich werde aber in Zukunft wissen, dass Donal Ryan ein lesenswerter Autor ist. Danke dafür.
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Beliebteste Beiträge in diesem Forum