Rezension (4/5*) zu Die spürst du nicht: Roman von Daniel Glattauer

RuLeka

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30. Januar 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die spürst du nicht: Roman von Daniel Glattauer
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Entlarvend und aufrüttelnd


Neun Jahre lang hat Daniel Glattauer keinen Roman mehr geschrieben, vor siebzehn Jahren schon erschien sein Bestseller „ Gut gegen Nordwind“.
Wird sein neuer Roman „ Die spürst Du nicht“ ebenfalls ein großer Erfolg werden? Man wird sehen. Zumindest greift er hierin auf originelle Weise gesellschaftlich relevante Themen auf.
Zwei Familien aus der gehobenen Mittelschicht verbringen ihren Urlaub in der Toskana. Da ist zum einen die Familie Binder: Er, Engelbert Binder, ein bodenständiger und erfolgreicher Bio-Winzer aus Niederösterreich mit seiner Frau Melanie und dem neunjährigen Sohn Benjamin. Melanie, eine verhinderte Schauspielerin und ehemalige Marillen-Königin, ist nunmehr für den kulturellen Teil der gemeinsamen Wein- Kultur der Binders zuständig.
Die Strobl-Marineks dagegen gehen nicht nur beruflich getrennte Wege. Elisa ist die langjährige Freundin von Melanie; beide waren in ihrer Jugend politisch engagiert. Elisa unterfütterte ihre Umweltaktivitäten mit einem Studium der Ökologie und hat mittlerweile einen politischen Aufstieg bei den Grünen hingelegt. Sie sitzt für ihre Partei im Nationalrat und hat dabei sehr gute Aussichten auf einen Ministerposten.
Oskar Marinek ist Dozent an der Universität Wien. Ständig muss er seine geistige Überlegenheit mit besserwisserischen Bemerkungen vorführen.
Die beiden Kinder der Strobl-Marineks sind natürlich auch mit dabei, die ebenfalls neunjährige Lotte und die vierzehnjährige Sophie Luise. Die Große ließ sich aber nur unter einer Bedingung zu dem Urlaub überreden. Ihre Mitschülerin Aayana müsse mitkommen. Eigentlich kennen sich die beiden Mädchen kaum, doch Photos mit ihr und dem somalischen Flüchtlingskind, so Sophie Luises Überlegungen, würden sich gut auf ihrem Instagram- Account machen.
Es war kein leichtes Unterfangen, Aayanas Familie von dem Vorhaben zu überzeugen. Doch letztlich hat es geklappt, „ Aayana aus der muslimischen Zwangsjacke ihrer Familie zu schälen, vorübergehend vom Kopftuch zu befreien“ und sie mit auf die Reise zu nehmen. Sophie Luise weiß nun, was sie zu tun hat. „ Sie will ihrer Freundin das Schöne am Guten der westlichen Welt zeigen und sie etwas vom Leben der Privilegierten lehren,…“
Daniel Glattauer beginnt seinen Roman mit einer filmreifen Szene. Wie mit einer Kamera zoomt er auf die Terrasse der toskanischen Ferienvilla inmitten einer traumhaften Natur. Doch er braucht keine vierzig Seiten, um die Idylle jäh zerbrechen zu lassen. Eine fürchterliche Katastrophe lässt den Urlaub vorzeitig enden und alle kehren verstört nach Österreich zurück. Alle, bis auf das Flüchtlingsmädchen.
Im weiteren Verlauf wird nun gezeigt, was das mit allen Beteiligten macht und
wie die einzelnen Figuren mit dem tragischen Unglück umgehen.
Während die Binders versuchen, das Ereignis zu verdrängen und sich ihren Alltagsgeschäften zu widmen, fühlt sich Oskar nach ausführlichen Erklärungsversuchen frei von Schuld. Er war eh kein Freund dieser Idee seiner Tochter und Geschehenes lässt nicht ändern. Da die Tragödie allerdings einigen medialen Wirbel verursacht, sieht sich die Politikerin Elisa vielen Anfeindungen ausgesetzt und muss um ihre Karriere bangen.
Doch auch um ihre Tochter Sophie Luise müsste sie sich sorgen. Denn das Mädchen zieht sich immer mehr in sich zurück, wird depressiv. Dann trifft sie im Netz auf einen feinfühligen jungen Mann und fühlt sich von ihm verstanden. Beim Leser läuten hier alle Alarmglocken, doch ihre Eltern bekommen davon nichts mit.
In der Zwischenzeit hat sich ein Anwalt bei den beiden Familien gemeldet und fordert im Namen der Flüchtlingsfamilie Schmerzensgeld in immenser Höhe. Obwohl die damals eingeschaltete Polizei jegliches Fremdverschulden und Fahrlässigkeit ausschloss, hat das Ganze ein juristisches Nachspiel.

Das alles schildert der Autor auf fesselnde und berührende Weise. Auch wenn seine Figuren manchmal bis ins Karikaturhafte chargieren, so erscheinen sie dem Leser trotzdem schnell vertraut. Glattauer zeichnet ihre Entwicklung glaubwürdig nach, zeigt auf, wie sie ständig nur um sich selbst kreisen. Es geht permanent um ihre Befindlichkeiten, darum, was das Ereignis für Auswirkungen auf ihre Psyche, ihren Alltag, ihre berufliche Karriere hat. Kaum einer fragt sich, wie es der betroffenen Flüchtlingsfamilie geht, wie sie den Verlust ihrer Tochter und Schwester verarbeiten. Denen, die wir nicht „ spüren“, weil sie so still und unauffällig sind, will Glattauer hier eine Stimme geben. „ Die sind zwar auch unter uns, aber nur scheinbar mitten unter uns. Sie sind unter uns in einem anderen Sinn: Sie sind darunter. Unter unserer Wahrnehmung. Unter unserem Interesse. Ihre Geschichte will hier keiner hören.“ Man spricht zwar über sie, aber nicht mit ihnen.
Das zeigt der Autor sehr authentisch an den vielen, in den Text eingestreuten Posts aus den sozialen Netzwerken. Manche sind mitfühlend , doch die meisten Kommentare sind zynisch und menschenverachtend, wie so oft, wenn es um das Thema Flüchtende geht.
Ohnedies mischt hier Daniel Glattauer sehr gekonnt einzelne Textsorten. So finden sich im Buch nüchterne Pressemitteilungen neben privaten Chatverläufen, Interviews sowie Befragungen vor Gericht und die schon erwähnten Hasskommentare im Netz. Das bringt Abwechslung in den Roman, verleiht ihm aber auch Authentizität und einen starken Gegenwartsbezug.
Ansonsten haben wir es mit einem auktorialen Erzähler zu tun, der wechselweise die Perspektive der einzelnen Protagonisten einnimmt.
Daniel Glattauer als versierter Theaterstückeschreiber ist ein Meister der Dialoge. Die sind auf Witz und Pointe angelegt , charakterisieren und entlarven die Sprechenden. Mit viel Ironie zeigt der Autor die Scheinheiligkeit und die Ignoranz einer bestimmten Gesellschaftsschicht auf, die ihr Gutmenschentum bewusst zur Schau stellt, der es in Wirklichkeit aber nur um sich selbst und der eigenen Selbstdarstellung geht. Die Frage, was ein Menschenleben wert ist, kann der Roman zwar nicht beantworten, doch Stoff zum Überlegen bietet er genug.
Mag auch einiges konstruiert wirken und ist mancher Zwist unnötig und zu viel des Guten, so ist Daniel Glattauer doch ein ungemein fesselnder und berührender Unterhaltungsroman gelungen, den ich gerne empfehle.

 

Literaturhexle

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Teammitglied
2. April 2017
19.444
49.883
49
Ich habe ihn gerade ausgelesen. Über 250 Seiten war ich sehr begeistert. Die Charaktere sind zwar überzeichnet, aber in einem vertretbaren Rahmen. Glattauer will schließlich was zeigen.
Die letzten 50 Seiten mit Auflösung des Ganzen waren allerdings eine Zumutung! Das Ende komplett konstruiert. Weder juristisch noch menschlich kann ich die Twists nachvollziehen. Glattauer kann froh sein (ich auch), dass ich keine Rezension schreiben muss;)
Am Ende ist es reine Unterhaltung mit Betroffenheitsnote.
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich habe ihn gerade ausgelesen. Über 250 Seiten war ich sehr begeistert. Die Charaktere sind zwar überzeichnet, aber in einem vertretbaren Rahmen. Glattauer will schließlich was zeigen.
Die letzten 50 Seiten mit Auflösung des Ganzen waren allerdings eine Zumutung! Das Ende komplett konstruiert. Weder juristisch noch menschlich kann ich die Twists nachvollziehen. Glattauer kann froh sein (ich auch), dass ich keine Rezension schreiben muss;)
Am Ende ist es reine Unterhaltung mit Betroffenheitsnote.
Das Ende hat mich auch nicht überzeugt. Trotzdem hat mich der Roman gut unterhalten und er hat das Potential für Diskussionen.
 
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Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich habe das Buch inzwischen gelesen. So richtig begeistert bin ich nicht. In der Eskalationsphase (bis zu dem Prozess) fand ich vieles, was vermutlich als spannungssteigernd gedacht war, ziemlich vorhersehbar. Dazu die Charakterschilderung - mehr Typen als Charaktere. Ich kann nicht umhin, als das Buch mit dem gerade gelesenen "Meisterstück" von Anne Enquist zu vergleichen, in dem eine ganz ähnliche Figur wie Oskar eine Hauptrolle spielt. Aber wieviel mehr Tiefe und Farbigkeit hat Enquists Porträt!
Ja, und das Ende - wie unser Hexle schon schrieb, das ist eindeutig des Guten zuviel. Was mich wirklich bewegt hat, war das Interview des "Freundes der Fische". Das war überhaupt eine Figur, die mich sehr stark angesprochen hat.

Bei Perlentaucher lese ich, dass eine Rezensentin emotionale Tiefe vermisste und meinte, sie hätte auf die Netzkommentare gut verzichten können, wenn der Autor sich um etwas mehr Intensität bemüht hätte. Das sehe ich genauso. Ich erkenne das Anliegen des Romans und finde es grundsätzlich gut; wenn es bei so vielen Lesern "wirkt", dann hat er ja seinen Zweck erreicht. Aber ich bin da beim Lesen eher zwischen zwei Abstoßungspunkten herumlaviert wie eine Billardkugel: die erste Hälfte war mir mit der geballten Ladung Upperclass-Borniertheit zu karikierend; das letzte Viertel verknüpft die losen Enden auf teilweise sehr herbeigezerrte Art - einer dieser ärgerlichen Fälle, wo etwas zugleich weit hergeholt und trotzdem vorhersehbar ist (speziell der Handlungsverlauf mit der Tochter).

Ich will nicht sagen, dass es mir nicht gefällt, aber mehr als vier Punkte hätte ich nicht gegeben, und diese vier auch nur wegen der guten Absicht. Vielleicht liegt mir Glattauer auch nicht. Ich habe vor Jahren schon mal ein Buch von ihm angelesen und schnell wieder weggelegt.
 

Die Häsin

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Rhönrand bei Fulda
Enquist spielt in einer anderen Liga als Glattauer. Für mich war der Roman ein gut gemachter ( bis auf das Ende) Unterhaltungsroman mit einer Botschaft , die Figuren mehr Typen als Charaktere.
Ja, das ist treffend auf den Punkt gebracht.
Dieser Oskar mit seinen Hegelzitaten war übrigens genau der Typ Mann, mit dem ich es keine fünf Minuten im selben Zimmer aushalte. :helo
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Dazu die Charakterschilderung - mehr Typen als Charaktere.
Ja, da sagst du was. Das gilt für fast alle Figuren.
die erste Hälfte war mir mit der geballten Ladung Upperclass-Borniertheit zu karikierend
Das fand ich anfangs herrlich unterhaltsam, muss ich sagen:)
Aber es nutzte sich ab.
das letzte Viertel verknüpft die losen Enden auf teilweise sehr herbeigezerrte Art
Ein Trost, dass du das ebenso empfindest. Das wirkte alles sehr gewollt auf mich...
nur wegen der guten Absicht
Wobei mir da auch zu dick aufgetragen wurde: die Mutter komplett verschleiert, der Vater im Rollstuhl, der Sohn drogenabhängig...
An Schicksalsschlägen haben sie auf der Flucht wirklich alles erlebt, was man so erleben kann: Diebstahl, Vergewaltigung, diverse Todesfälle,...
Das ist so dick aufgetragen, dass es schon wieder an mir abprallt.
 
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Die Häsin

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Rhönrand bei Fulda
Ich möchte in diesem Zusammenhang gerne an dieses Buch erinnern, das ein ähnliches Thema hat:


Ich habe irgendwo in meinem Lesetagebuch darüber geschrieben. Die Hauptfigur Jasper Humlin, ein Schriftsteller, ist auch so ein wohlmeinender linker Mittelstandsintellektueller mit Midlife-crisis. Auf oder nach einer seiner Lesungen kommt er mit Tea-Bag und anderen geflüchteten Frauen ins Gespräch (mindestens eine von ihnen übrigens illegal im Land, ich erinnere mich nicht mehr genau). "Tea-Bag" ist ein Roman mit und über Fluchtbiographien, aber auch (und gerade) über den Versuch eines Mittelstandsschweden, überhaupt erst Zugang zu den Geschichten der geflüchteten Frauen zu finden. Hat mir sehr gefallen. Mankell ist natürlich prädestiniert, über solche Themen zu schreiben.