Rezension Rezension (4/5*) zu Die Schauspielerin: Roman von Enright, Anne.

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Schauspielerin: Roman von Enright, Anne
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Chaos und Faszination

"Die Schauspielerin" - Unweigerlich rechnet man bei diesem Romantitel und dem Plot ("Promitochter berichtet über das Leben mit ihrer berühmten Mutter") mit Glanz und Glamour, Klatsch und Skandale sowie natürlich einer schwierigen Kindheit.
Und man wird nicht enttäuscht. Denn all dies findet sich in dem Roman der irischen Schriftstellerin Anne Enright.
Die Booker Prize Gewinnerin macht aus einer scheinbar banalen Geschichte, die sich tagtäglich in der Boulevardpresse findet, ein raffiniertes Psychogramm, dessen Lektüre mir zwar einiges abverlangt hat, aber mich dennoch nicht losgelassen hat vor lauter Faszination.

Glanz und Glamour
Die fiktive Katherine O'Dell kommt 1928 in London auf die Welt. Die Schauspielerei ist ihr in die Wiege gelegt worden. Denn beide Eltern verdienen sich als Theaterschauspieler ihren Lebensunterhalt. Von dem Vater hat Katherine ihr gutes Aussehen geerbt. Und Ruckzuck landet auch sie beim Theater, in einer Zeit, in der die Filmbranche noch in den Kinderschuhen steckte. Während des Krieges nimmt die Familie ein Engagement im sicheren Irland an und hält sich dort während der Kriegsjahre auf. Katherine kann ihr Publikum durch Talent und gutes Aussehen begeistern. Langsam aber stetig steigt sie auf der Erfolgsleiter nach oben, so dass sie am Ende unweigerlich in Hollywood landet. Als sie schwanger ist - ein Skandal zur damaligen Zeit, insbesondere, wenn frau unverheiratet ist -, zieht sie sich zunächst aus der Öffenltichkeit zurück und geht wieder nach Irland. Hier bekommt sie ihr Kind und stürzt sich anschließend wieder in die Schauspielerei. Doch ihre bis dahin steile Karriere hat den zenith überschritten.
Ihre Tochter Norah, Ich-Erzählerin des Romans, wächst in den ersten Lebensjahren bei ihren Großmüttern auf, denn Katherine hält an ihrer Karriere in Amerika fest. Als Katherine feststellt, dass ihre Glamourzeit abgelaufen ist, kommt sie nach Irland zurück und versucht, an ihren alten Erfolgen anzuknüpfen, was ihr nie mehr gelingen wird. Stattdessen wird sie erfahren, dass es ein hartes und unbarmherziges Geschäft ist, den Schein der strahlenden Schauspiel-Ikone aufrechtzuerhalten.

Ich habe bewusst eine chronologische Wiedergabe des Lebenswegs der Katherine O'Dell gewählt. Denn so, wie Anne Enright das Leben der Schauspielerin durch die Perspektive ihrer Tochter Norah schildernlässt, hätte ich es niemals hinbekommen. Norahs Wiedergabe der Geschichte ist chronologisch chaotisch. Wir erfahren anfangs, dass Norah, mittlerweile in den 30ern, wenn nicht älter, ein Buch über ihre Mutter und das Leben mit ihr schreiben möchte. Gerade am Anfang gibt sie ihre Erinnerungen völlig unsortiert wieder: Norah als junge Erwachsene, Norah mit 6 Jahren, zahllose fiktive Promis, die namentlich genannt werden, Norah, die sich für die Recherche zu dem Buch an die Orte der Kindheit und Jugend ihrer Mutter begibt ... Dieses Durcheinander macht das Lesen nicht einfach. Erst mit der Zeit kommt ein bisschen Struktur in die Handlung. oder man hat sich einfach an das Chaos gewöhnt. Dank der Schreibkunst von Anne Enright wird man gelegentlich mit Sprachperlen belohnt. Das können einzelne Sätze sein, die so wunderschön sind, dass sie aus diesem Chaos an Erinnerungen förmlich herausstrahlen und mich in Verzückung geraten lassen. Eines ist sicher: Schreiben kann Mrs. Enright.

Was die Erwartungshaltung des Lesers bezüglich der schwierigen Kindheit einer Promi-Tochter betrifft:
Diese Erwartung wird erfüllt. Jedoch auch hier bekommt man die Promi-News nicht auf dem Silbertablett serviert, sondern man muss sie sich erarbeiten. Anne Enright ist sehr zurückhaltend, was die Charakterisierung ihrer Protagonisten angeht. Sie macht dem Titel des Buches alle Ehre. Denn hier wird geschauspielert. Und wir haben es nicht nur mit einer Schauspielerin zu tun. Sondern wie die Mutter so die Tochter - natürlich im übertragenen Sinne. Katherines Leben ist eine einzige Inszenierung. Nie vergisst sie, dass sie in der Öffentlichkeit steht. Und sie liefert ihrem Publikum genau das, was es erwartet. Sie erlaubt sich keine Schwächen in ihrer Rolle der strahlenden Diva - weder was ihr Aussehen betrifft, noch was ihr Verhalten betrifft. In diese Inszenierungen ihres Lebens bezieht sie auch ihre Tochter mit ein. Von klein auf lernt diese, dass ihre Mutter die Hauptdarstellerin ist und sie eine Nebendarstellerin, die dafür lebt, ihre Mutter in Szene zu setzen. Katherine zeigt nie ihr wahres Gesicht oder gibt Einblick in ihr Seelenleben. Selbst ihre Tochter ist nicht in der Lage, den Menschen hinter den vielfältigen Masken, die Katherine trägt zu erkennen. Erst zum Ende des Romans und nach dem Tod von Katherine (sie stirbt im Alter von 58 Jahren) erhalten wir einen Einblick in das Seelenleben der Schauspielerin.
Norah wird also zu Lebzeiten Katherines nie erfahren, wer ihre Mutter wirklich war. Und als Tochter ihrer Mutter und weil sie in dieser Lebensinszenierung aufgewachsen ist, wird sie ebenfalls mit einer Maske vor dem Gesicht durchs Leben gehen. Sie hat Schwierigkeiten zuviel von sich Preis zu geben. Schlimmer noch, sie weiß nicht, wer sie ist, da sie sich nur in der Rolle der Tochter und Nebendarstellerin im Leben ihrer Mutter kennt.

Fazit:
Ein faszinierender Roman, der eine besondere Mutter-Tochter-Beziehung mit psychologischer Finesse herausarbeitet. Durch die chaotische Chronologie ist dieser Roman nicht leicht zu lesen. Doch die Mühe wird durch die sprachliche Brillanz von Anne Enright mehr als belohnt.

von: Huub Buijssen
von: Dagmar Schifferli
von: Alessandro Baricco
 
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