Rezension (4/5*) zu Die Mauer: Roman von John Lanchester

GAIA

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27. Dezember 2021
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49
Thüringen
Die Mauer zwischen uns und „den Anderen“

John Lanchester entwirft in seinem Roman „Die Mauer“ eine nicht allzu ferne Zukunft, in welcher bereits „der Wandel“ vonstattengegangen ist, sprich, das Klima ist gekippt, der Meeresspiegel angestiegen, während Binnenländer austrocknen. Die Lebensbedingungen in vielen Ländern sind dadurch dermaßen beeinflusst, dass sie den Weg über „das Meer“ auf die britische Insel suchen. Die Verzweiflung muss groß sein, denn Großbritannien schützt sich vor „den Anderen“ durch eine Mauer, welche die komplette Insel vom Meer trennt. Das Meer muss bewacht werden durch junge Wehrdienstleistende, die für zwei Jahre mit scharfer Munition auf die Mauer geschickt werden. Hilfesuchende, oder im Sprech der Regierung: „Angreifer“, sollten mit allen Mitteln vom Betreten Großbritanniens abgehalten werden. Kommt einem bekannt vor? Man braucht nur „Mittelmeer“ und „Frontex“ einsetzen und schon bekommt das dystopische Buch von Lanchester natürlich auch schon seine aktuelle Relevanz.

Wir begleiten den jungen Briten Kavanagh als Ich-Erzähler zu seinem ersten Mauereinsatz. Er ist überzeugt von seinem Einsatz und plant für die Zukunft in die Elite aufzusteigen, sich Fernreisen mit dem Flugzeug leisten zu können und einfach „dazuzugehören“. Es wird für den Ernstfall trainiert, denn auf keinen Fall darf eine Person aus Richtung des Meeres die Mauer überqueren, denn es ist bekannt, dass als Exempel genauso viele Verteidiger zur Strafe aufs Meer geschickt werden, sollte ein Anderer einen Durchbruch schaffen. Kavanagh ist dabei keinesfalls der Widerständler-Protagonist, den man an dieser Stelle in einem dystopischen Roman vermuten würde. Er versucht einfach von einer Situation in die nächste zu kommen und dabei möglichst wenige Fehler zu machen. Durch die Erfahrungen, die Kavanagh im Laufe der Geschichte macht, positioniert sich Lanchester natürlich trotzdem ideologisch gegen das Vorgehen dieser zukünftigen Regierung. Die Grausamkeit einer solchen ausschließenden Politik wird immer wieder verdeutlicht. Und das schafft der Autor mit durchaus interessanten Wendungen in der Geschichte bzw. das Ausbleiben von zuvor erwarteten Wendungen. Denn Kavanagh – soviel kann verraten werden – wird auch nicht zum großen Widerständler, und bringt vielleicht noch vollkommen unrealistisch das Regierungssystem ins Wanken. Nein, das Buch erzählt eine vergleichsweise ruhige Geschichte, die wenig Hoffnung ausstrahlt und damit nicht den Weg geht, den viele dystopische Spannungsromane gehen.

Stilistisch bewegt sich Lanchester in soliden Gefilden. Der Schreibstil erlaubt eine zügige Lektüre, macht aber auch keine besonderen literarischen Sprünge. Die Figuren bleiben recht holzschnittartig und zeigen wenig psychologische Tiefe. Damit muss man leben können in diesem Roman.

Es handelt sich hierbei um einen Roman, der sicherlich nicht die Dystopie neu erfindet, aber durchaus auch einmal unerwartete Wege geht. Eine lesenswerte Lektüre, welche man eher als einfachen dystopischen Abenteuerroman und weniger als literarisches Werk sehen sollte, der fortschreibt, was sich leider derzeit in unserer Gegenwart schon bedrohlich ankündigt.

3,5 Sterne dafür von mir, die ich aufgrund des Themas und dem einmal nicht zu heldenhaften Ende aufrunde auf 4 Sterne.

 
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