Rezension Rezension (4/5*) zu Die Kinder des Borgo Vecchio: Roman von Giosuè Calaciura.

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Kinder des Borgo Vecchio von Giosuè Calaciura
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Grausam und schön

Dicht und voller Poesie das Elend übertünchend schickt der italienische Autor Giosuè Calaciura in seinem Buch „Die Kinder des Borgo Vecchio“ den Leser in das Armenviertel von Palermo, irgendwann in der jüngeren Vergangenheit. Märchenhaft und Symbolträchtig setzt er Ungerechtigkeit, Armut und Trostlosigkeit gekonnt in Szene, emporgehoben von kleinen Freuden, die wie ein plötzlich auftauchender Sonnenstrahl am Wolkendrohenden Himmel Schönheit auch unter all dem Dreck und Gestank vermuten lassen und manchmal fast biblisch wirken.

Mimmo, Cristofano und Celeste fristen ein bedauernswertes und tristes Dasein im Borgo Vecchio, wo alle Träume im Schmutz erstickt sind, Armut und Gewalt das Leben bestimmen und Willenlosigkeit dem Ausbruch aus all dem Elend vereitelt. Die Kinder hegen dennoch heimliche Träume und vergöttern den Gauner Totò, weil er märchenhaft schnell alle austrickst, der Obrigkeit entkommt wie der Wind und scheinbar jenseits aller Grenzen agiert.
Die brutale Wirklichkeit fängt sie immer wieder ein, wenn Cristofano von seinem Vater allabendlich geprügelt wird und alle Nachbarn sein Schreien überhören, wenn Celeste Tage und Nächte auf dem Balkon verbringen muss weil ihre Mutter, die Prostituierte des Viertels, sich um Freier kümmert und die Tochter aussperrt und wenn Mimmos Vater, der Fleischer des Viertels, der Aufschneider und Betrüger, die Armen noch mehr ausnimmt. Wenn hingegen allabendlich der Brotduft durch das Viertel zieht, glätten sich alle Wogen des Tages, märchenhaft fühlt man sich beim Lesen, und kann dabei das Brot fast selbst riechen.

In der Gemeinschaft findet jeder seinen Platz, egal ob mit aller Brutalität oder voller Güte. Wenn Cristofano allabendlich verdroschen wird ist das sein Schicksal und das seines Vaters, vorgezeichnet und unabweichbar beide aneinander bindend.
Die drei Kinder geben sich gegenseitig Halt, und obwohl sie der Kralle des Elends scheinbar nicht entkommen können, versuchen sie immer wieder, den Kreislauf zu durchbrechen.

Der Roman, der 2017 mit dem Premio Volponi ausgezeichnet wurde, besticht durch die grandiose poetische Sprache, mit der Bilder lebendig werden, mit dem Zwingen des Lesers, den Blick nicht abzuwenden von fast nicht auszuhaltender und nebenbei erzählter Not und Gewalt. Und die Geschichte kommt trotz des Elends oft märchenhaft und leichtfüßig daher. Man bekommt neben dem Zoom auf die Armut ein Gefühl für die Gelassenheit, die die Menschen das alles ertragen lässt.

Vieles wirkt vorsinnflutlich, anderes modern und dem Zeitgeist entsprechend. Es passieren wunderliche Dinge, die an Märchen erinnern, und symbolträchtige Ereignisse lassen an einen alttestamentarischen rachsüchtigen Gott denken. Grausamkeiten werden oft wie nebenbei angesprochen, finden manchmal keine direkte Erwähnung, fast ignorant steigt der Autor darüber hinweg, und sie wirken dadurch umso eindringlicher, weil sie so sehr zum alltäglichen Leben gehörend wirken.

Das Buch hat mich angezogen und abgestoßen zugleich, und ich kam mir manchmal wie in einer surrealen Italienischen Oper festsitzend vor. Sprachlich absolut fesselnd und grandios ist es ein grausam schönes Buch, das sich in der Kitschecke ebenso bedient wie im Alten Testament, das Brutalität durch ständige abscheuliche Beschreibung aufzeigt, und ein fast opulentes opernhaftes Ende kann nicht trösten, will es auch nicht.
Ich habe mich schwer getan mit der Bewertung, mich letztlich für vier Lesesterne entschieden.

 
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