Rezension Rezension (4/5*) zu Die Gesichter: Roman von Tom Rachman.

Leseglück

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7. Juni 2017
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Das Streben nach Anerkennung

Wenn man als Sohn eines berühmten und egozentrischen Malergenies geboren wird, steht das eigene Lebensthema eigentlich von vornherein fest. Es geht um die Frage: Wie kann man sich aus dem Schatten des übermächtigen Vaters lösen und ein eigenes, erfülltes Leben führen.
In Tom Rachmanns Roman "Die Gesichter" geht es genau darum. Die Hauptfigur in dem Roman ist Charles Bavinsky, eines von zahlreichen Kindern des berühmten Malers Bear Bavinsky. Als Leser begleitet man das gesamte Leben dieses Sohnes. Wir lernen ihn als 5-jährigen kennen, erleben seine Kindheit und Jugend, sein Erwachsenleben, seinen Tod und verfolgen darüber hinaus die Entwicklung nach seinem Tod.

In eindringlichen Szenen schildert Tom Rachmann die Liebe und Bewunderung des Sohnes zu seinem Vater, den verzweifelten Wunsch, vom Vater wahrgenommen zu werden und auf der anderen Seite die kalte, egozentrische und manipulative Art des Vaters. Bear ist nicht offen ablehnend, sondern gibt vor, seinen Sohn zu lieben. Er sagt sogar, Charles sei sein Lieblingssohn. Als Leserin durchschaut man diese Lüge, mit der er den jungen Mann geschickt manipuliert. Bis sich Pinch, wie Charles von seinem Vater genannt wird, die Wahrheit eingesteht, muss man noch viele Buchseiten lang warten.
Auf dem Buchcover sieht man pastos aufgetragene, leuchtend bunte Farben. Der Buchtitel und Autorenname droht von diesen Farben übermalt zu werden. Ein sehr schönes Buchcover, das an den raumgreifenden Charakter von Bear denken lässt.

Die Mutter von Charles ist selbst Künstlerin. Sie besitzt aber kein Selbstvertrauen und verhält sich ihrem Mann gegenüber fast unterwürfig. Leider ähnelt Pinch charakterlich eher seiner Mutter, so dass man als Leserin immer Zweifel hat, ob es Charles gelingt, sich von seinem Vater zu emanzipieren.
Charles ist selbst künstlerisch begabt. Er malt Bilder in seiner Jugendzeit, zu einer Zeit also, als sich Bear längst eine jüngere Frau gesucht hat und nicht mehr mit ihm und seiner Mutter zusammen lebt. Als er 15 Jahre alt ist, besucht er seinen Vater und zeigt ihm sein (aus seiner Sicht) bestes Bild. Als Leser ahnt man, dass das Bild gut ist, zumindest hatte seine Mutter ihn gelobt. Bear Bavinsky jedoch fällt ein vernichtendes Urteil. "...ein Maler bist du nicht...und du wirst auch nie einer werden."
Nach dieser brutalen Bemerkung wird Charles sehr viele Jahr lang keinen Pinsel mehr in die Hand nehmen.

Die Schilderung der Kindheit und Jugend von Charles haben mir sehr gut gefallen. Fast körperlich leidet man mit, wenn der Junge so wenig Anerkennung von seinem geliebten Vater bekommt. Die Entwicklungen im Erwachsenenalter lesen sich nicht ganz so spannend, nach meiner Meinung. Wir Leser lernen die Menschen kennen, die für Pinch wichtig werden. Seinen Freund, seine Freundin, seine Ehefrau (die Ehe ist nur eine kurze Episode) seine Kollegen (Charles arbeitet als Italienischlehrer). Die Dialoge und Interaktionen mit seinen Mitmenschen sind zwar meist unterhaltsam zu lesen, lenkten aber auch ein bisschen vom Handlungsfluss ab.
Erst als sich Charles in seiner Lebensmitte die Wahrheit über die Beziehung zu seinem Vater eingesteht und danach im Alkoholrausch ein Bild seines Vaters zerstört, kommt wieder mehr Spannung auf. Die Beschädigung des Bildes führt zu einigen Verwicklungen, in deren Verlauf (so viel kann man verraten) Pinch wieder zum Malerpinsel greift. Er findet einen Weg für sich, seine Künstlernatur doch noch auszuleben.
Am Ende seines Lebens scheint dem Künstlersohn klar zu werden, dass - wie er zu sich selbst sagt: "...die Höhepunkte meines Lebens in meinem Inneren stattgefunden haben." Damit hat er sich selbst aus der Abhängigkeit von Anerkennung durch den Vater (aber auch von Anderen) befreit. Was die Anerkennung durch die Kunstwelt betrifft, so erleben wir am Ende des Romans noch eine Überraschung, die allgemeine Fragen nach den Mechanismen des Kunstmarktes aufwirft.

Insgesamt ein unterhaltsam geschriebener Roman aus der Welt der Kunstszene, ein Entwicklungsroman, der berührt.



 
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