Rezension (4/5*) zu Die geheimste Erinnerung der Menschen: Roman von Mohamed Mbougar Sarr

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die geheimste Erinnerung der Menschen: Roman von Mohamed Mbougar Sarr
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"Lesen Sie sein Buch, es ist natürlich fabelhaft." (S. 295)

Ich wünsche Mohamed Mbougar Sarrs Romen „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ sehr viele Leser, denn dieses Werk ist ein unfassbar faszinierendes, schwindelerregendes, verschachteltes mitunter ironisches und bei genauerer Betrachtung sehr widersprüchliches Kunstwerk, das seinesgleichen sucht. Vom Erzählauftakt an, der einer Rahmenhandlung gleicht, wandelt der Leser auf den Spuren des berühmt-unbekannten (kein Widerspruch) Autoren T.C.Elimane – einst gefeiert, dann verdammt.

Der junge Diégane, ein aufstrebender Schriftsteller aus dem Senegal, gerät in den Bann des einzigen Werks Elimanes und in dem Bestreben mehr über diesen Ausnahme-Literaten und die Begleitumstände des Romans zu erfahren, begibt er sich nicht nur lesend, sondern auch in der Realität mehr und mehr in „Das Labyrinth des Unmenschlichen“. Wie Diégane verfängt auch der Leser sich Seite für Seite immer stärker in diesem Irrgarten aus Geschichten, Mosaiksteinchen und Puzzlestückchen, doch trotz aller scheinbarer Annäherung bleibt Elimane schemenhaft, ein Schatten (so wie auch sein Werk für uns Leser nur eine Idee bleibt). Dabei folgt köstliche Erzählschachtel auf Erzählschachtel, an der Hand unterschiedlicher Figuren, die sich in ihren Erzählungen überlappen und zwischen einander hin- und herwechseln, aber nie den roten Faden verlieren, wandelt man durch einen erzählerisch wirklich ausgezeichnet gemachten Roman. Es folgt Tagebuch auf Brief, auf Artikel, auf Interview, auf Notizbuch, auf Kurzbiographie – alle Formen der Informationsvermittlung treffen hier aufeinander und alle sorgen sie für ein hohes Maß an Authentizität. Diese trifft wiederum inhaltlich auf die schwarze Magie Afrikas, die als Handlungselement so plausibel ist, dass man sie an keiner Stelle anzweifelt. Ich gebe zu, dass ich mich normalerweise mit magischem Realismus sehr schwertue, Sarrs Roman ist tatsächlich der erste, der mich in dieser Hinsicht überzeugt und mir gefällt.

Inhaltlich deckt der Roman große Fragen ab und befasst sich mit so grundlegenden Themen wie hybrider Identität, den Auswirkungen von Kolonisation auf literarisches Schaffen und die ausgeprägte zur Schau gestellte vermeintliche Überlegenheit europäischer Kultur. Besonders hier ist der Roman außergewöhnlich gut gelungen. Er scheut sich nicht, den herrschenden Trend des Personenkults im Literaturbetrieb explizit und überspitzt der Lächerlichkeit preiszugeben (unvergessen S. 295) und zeigt mit seiner Darstellung des Schicksals der Literaturkritik wie weit sich die momentanen Strömungen vom eigentlichen Text zu entfernen scheinen. In Momenten wie diesen fand ich den Roman einfach nur hellsichtig und großartig, um nicht zu sagen preisverdächtig (ein Preis wurde ja bereits gewonnen).

Trotz allem hat auch dieser herausragende Text seine Schwächen. Ich wünsche dem Text – wie eingangs erwähnt – zahlreiche Leser, allerdings glaube ich, dass nicht sehr viele die Hürde der Anfangskapitel zu nehmen bereit sind. Die ersten 120 Seiten ziehen sich, sie sind durchtränkt von schwurbeligen Endlossätzen mit unnötigen Fremdwörterergüssen, die die junge selbstverliebte Erzählinstanz glaubt äußern zu müssen. Zwar sind diese Teile selbstverständlich in der Rückschau sehr sinnvoll und erfüllen auch hervorragend ihre Funktion – Freude macht die Lektüre dieser Passagen dennoch nicht. Ebenso gibt es inmitten der wahrlich großen und überzeugenden Handlung zum Ende hin auch noch eine recht lustlos dahingeschriebene Episode, in deren Mittelpunkt die Rückkehr in den Senegal und das Exil in Argentinien steht. Sie wirkt fast wie ein Fremdkörper im Text, ist redundant und grenzwertig langweilig.

Und dennoch: auch wenn der Roman seine kleineren Unwägbarkeiten hat und mir die Frauenfiguren in ihrer Darstellung durchweg nicht zugesagt haben, so ist doch Sarrs Werk ein unglaublicher Ritt durch die Literatur, durch die Auswirkungen des Kolonialismus, durch die Beziehungen zwischen dem Senegal und Frankreich. Absolut lesens- und empfehlenswert.


 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Deine Rezension liest sich mal wieder wunderbar! Ich staune, wie du die einzelnen Teile so klar gliedern und bewerten kannst. Den ersten Teil habe ich bei weitem nicht so zäh empfunden. Mir haben die Wortschwurbeleien Spaß gemacht.

Bleib in Zukunft besser gesund, damit du viele unserer Runden mitlesen und bereichern kannst:)!
 

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