Rezension (4/5*) zu Die Bücher, der Junge und die Nacht: Roman von Kai Meyer

Buchbesprechung

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15. Februar 2023
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Bad Kissingen
Buchinformationen und Rezensionen zu Die Bücher, der Junge und die Nacht: Roman von Kai Meyer
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Spannende Fiktion und interessante Zeitgeschichte

REZENSION – Schon in seinen eher für junge Leser verfassten Romanen vergangener Jahre hatte sich der vielfach prämierte Schriftsteller Kai Meyer (53) dem Thema der Bibliomanie, also der übersteigerten bis krankhaften Leidenschaft zum Sammeln von Büchern, sowie der Bibliomantik, mit Hilfe von Büchern magische Kräfte ausüben zu wollen, zugewandt. Doch während sich die Figuren des „Meisters der deutschen Phantastik“ in dessen Trilogie „Die Seiten der Welt“ (2014-2016) sowie im zweibändigen Roman „Die Spur der Bücher (2017/2018) noch in reinen Fantasy-Welten bewegten, ist Kai Meyers neuester Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“, im November 2022 bei Verlagsgruppe Droemer Knaur erschienen, ganz anders konzipiert und allein schon deshalb lesenswert.
Seine diesmal für erwachsene Leser geschriebene „Liebeserklärung an die Welt der Bücher“, wie es der Verlag im Klappentext ausdrückt, spielt im Gegensatz zu üblichen Fantasy-Romanen nicht in einer mittelalterlich anmutenden Märchenwelt, sondern die fiktive Handlung ist im durchaus realen Umfeld der historischen Bücherstadt Leipzig und dessen Graphischem Viertel verortet und in die Neuzeit der Jahre 1933, 1943 und 1971 verlegt. Gerade dieses Spannungsfeld zwischen einerseits absoluter Realität von Ort und Zeit und andererseits der eher mystisch als phantastisch wirkenden Handlung macht Meyers Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ auch für Nicht-Fantasy-Leser zu einer interessanten und spannenden Lektüre.
Die Chronologie der Geschichte – in wechselnden Zeitsprüngen abschnittweise erzählt, ohne allerdings den Leser zu verwirren – beginnt 1933, dem Jahr der Machtergreifung der Nazis, im Graphischen Viertel der alten Bücherstadt Leipzig. Juliana Pallandt, Tochter des mächtigen Leipziger Verlegers Konrad Pallandt, mit dem der benachbarte Antiquar und Buchbinder Jakob Steinfeld verfeindet ist, bittet ausgerechnet ihn, das Manuskript eines von ihr verfassten Buches zu binden. Steinfeld lehnt zunächst ab, verliebt sich aber spontan in die junge Frau. Bald darauf ist Juliana verschwunden. Vierzig Jahre später bittet die Bibliothekarin Marie den mit ihr befreundeten Kollegen Robert Steinfeld, Jakobs Sohn, der allerdings seine Eltern nie kennenlernte, die Bibliothek des seit Kriegsende in München wirkenden und nun verstorbenen Verlegers Konrad Pallandt aufzulösen. Einige dort aufgefundene Bände aus der Leipziger Buchbinderei Steinfeld geben den beiden Experten allerdings Rätsel auf, weshalb das Paar den Spuren bis hin zu jenen unheilvollen Ereignissen der 1930er und 1940er Jahre in Leipzig nachgeht. Dabei stoßen sie auf das Mysterium des Buches „Das Alphabet des Schlafs“, dessen Geschichte eng mit Roberts eigener verknüpft ist, und des einzigen Exemplars eines angeblich magischen, vielleicht sogar teuflischen Buches mit dem Titel „Der König im Exil“, das einst im Besitz der Buchbinder-Loge der „Dreizehn Meister“ war.
Kai Meyer versteht es ausgezeichnet, seine rein fiktive Geschichte um die bibliophilen Steinfelds, die Drucker- und Verlegerfamilie Pallandt sowie Pallandts geheimnisvollen Sekretär Flügelschlag und die historische Buchbinder-Loge im Umfeld des Graphischen Viertels so plastisch, in atmosphärischer Dichte packend und realitätsnah zu schildern, dass man versucht ist, im Internet Informationen über die „Dreizehn Meistern“ zu finden. So ist der Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ einerseits eine spannend geschriebene Fiktion, wobei die Tragik des Geschehens hin und wieder humorvoll aufgelockert wird, andererseits aber auch ein interessantes Stück Zeitgeschichte über die Bücherstadt Leipzig während der Weimarer Republik und der Kriegsjahre bis hin zu jener Nacht am 4. Dezember 1943, in der 1 800 Menschen im Bombenhagel umkamen und das Graphische Viertel zerstört wurde. Zudem dürfte dieser Roman mit seinen Beschreibungen des Steinfeld'schen Antiquariats, des Handwerks der Buchbinder, der Pallandt'schen Bibliothek und den Bezügen zu Werken klassischer Literatur wohl jeden wahren Bücherfreund begeistern.