Rezension (4/5*) zu Die Brüder Zemganno: Ein Zirkusroman von Edmond de Goncourt

Die Häsin

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"Ist ein Arzt im Zirkus anwesend?"

Die Brüder Zemganno sind Zirkusartisten. Eigentlich Akrobaten, u.a. am Trapez; aber da sie ihre Kunststücke im Rahmen einer selbst erfundenen Spielszene zu zeigen pflegen, firmieren sie als "Clown-Akrobaten".

In 86 kurzen Kapiteln* (manchmal nicht mal eine Seite lang) wird ihr Berufsleben berichtet; von den Anfängen bei einem kleinen Wanderzirkus an über Engagements in England geht es weiter bis hin zu hoch bezahlten Auftritten in erstklassigen Etablissements in Paris. Nebenher erzählt der Autor natürlich auch Privates, aber das nimmt nicht viel Raum ein, weil die beiden nur für ihre Arbeit leben. Keiner von ihnen hat jemals eine "Frauengeschichte", sie trennen sich nie.


Zu Beginn des Romans, bei dem winzigen und recht armseligen Wanderzirkus, wird der ältere, Gianni, als "Jüngling" bzw. "junger Mann" beschrieben; Nello wird noch gestillt. Der Altersunterschied müsste also mindestens zehn Jahre betragen, eher mehr. Gianni leitet den kleinen Bruder an, der schon als Kleinkind im Clownkostüm in der Manege steht. Bei ihren späteren gemeinsamen akrobatischen Nummern bleibt Gianni stets das "Mastermind" und denkt sich die Gestaltung aus. Goncourt beschreibt die Entwicklung einer artistischen Nummer als intellektuelle Herausforderung, die nicht nur körperliche Übung, sondern auch viel Kreativität und Denkarbeit braucht. Gianni ist ehrgeizig, schaut sich jede Nummer anderer Akrobaten an, liest sogar Bücher über die Theorie des Extremsports, z.B. Hochsprung. Der jüngere Nello ist eher ein verspielter Typ und erkennt die Führung durch den Bruder widerspruchslos an: "Da kommen zuerst zwei oder drei Tage, manchmal auch fünf oder sechs, an denen du mir mit ja antwortest; wenn du nein sagen müsstest und umgekehrt. Gut, denke ich, er steckt wieder mal in einer Erfinderkrise ... (...) und dann machst du plötzlich ein Gesicht, wie du es heute aufsetzt, ein Gesicht wie eine Sonnenfinsternis (...) und ich sage nur zu mir: Die Nummer meines Bruders ist futsch! (...) Alles, was du erfindest, will ich machen, und wenn ich mir den Hals dabei breche ... aber das Erfinden ist deine Sache."

Die Brüder steigen zu hochbezahlten Artisten auf, leben aber stets gleichmäßig bescheiden und unauffällig, tragen korrekte Anzüge und trinken nie etwas Stärkeres als Weinschorle. Der Berufsalltag von Zirkusartisten hat bei Goncourt nichts Glamouröses an sich. "Wenn diese Menschen die fieberhafte Erregung ihrer Arbeit hinter sich haben, wenn sie sich ausruhen, wenn sie grübeln, müssen sie jeden Augenblick voller Sorge daran denken, dass die Kraft und die Geschicklichkeit, von der sie leben, vielleicht ganz plötzlich (...) vernichtet werden kann" schreibt Goncourt und fährt fort mit einer Schilderung der "Angeschlagenen", die sich einmal verletzt haben, äußerlich wiederhergestellt sind, aber bei ihren Auftritten eine Kraftanstrengung aufwenden müssen, "dass sie sich ruinieren und verdrießlich werden" - es handelt sich wohl einfach um den unwiederbringlichen Verlust des Selbstbewusstseins und des Glaubens an die eigene Unverletzlichkeit.

Die ganze Erzählung hat, wie im letzten Zitat ersichtlich, einen leicht melancholischen, wehmütigen Unterton, obwohl bis dahin gar nichts Schlimmes passiert. Dann erleidet Nello, der jüngere Bruder, einen furchtbaren Unfall - bei einem riskanten Auftritt, der bisher nie Dagewesenes zeigen sollte. Seine Arbeitsfähigkeit steht für Monate, wenn nicht Jahre in Frage. Zweifel und Ängste erfassen auch den älteren Bruder.

Edmond de Goncourt schrieb "Die Brüder Zemganno" 1879 allein nach dem Tod seines jüngeren Bruders Jules, mit dem er bis dahin etliche Bücher gemeinsam verfasst hatte - "in enger Schaffensgemeinschaft" heißt es beim Projekt Gutenberg. Obwohl das Buch von einem fiktiven Brüderpaar handelt, kann man sicher annehmen, dass Edmond seines eigenen Bruders gedacht hat. Man merkt dem Buch auf jeder Seite die innige Verbundenheit und die Trauer an. Es ist ein sehr liebevoll geschriebenes, lesenswertes Buch, das übrigens auch interessante Einblicke in die damalige Welt der Zirkusartisten bietet. (Der Autor dankt in einem Vorwort vier damals bekannten Artisten, die ihn mit Rat unterstützt haben, und spart nicht mit Anerkennung: "Sie sind nicht nur die gelenkigen Akrobaten, denen ganz Paris applaudiert, sondern sie durchdenken ihre Kunst auch in einer Art und Weise, wie es Gelehrte und Künstler tun.")

Ich habe das Buch mit viel Anteilnahme und Freude gelesen. Nach heutigen Begriffen ist es natürlich etwas altertümlich und nicht gerade handlungsreich - zum Großteil schildert es mehr Zustände als Vorgänge. Aber wer sich gern mit leiser Wehmut ins Zirkusmilieu vergangener Zeiten versetzen möchte, ist hier richtig.


*) Die bei Projekt Gutenberg bereitstehende Ausgabe hat nur 29 Kapitel, warum auch immer - der Inhalt ist der gleiche. Mir liegt eine Printausgabe vom Schünemann Verlag 1989 vor, die auch Edmond de Goncourts Kurzroman "Juliette Faustin" (über eine Schauspielerin) enthält.




 

otegami

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17. Dezember 2021
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Jetzt haben Dich die Goncourts aber gepackt ;) ! (Ich habe auch schon überlegt, w a s ich noch von ihnen lesen will!) Seltsam: da hatte ich noch gar nicht die Jahreszahl der Entstehung gelesen, 'wusste' ich, dass es von Edmond nach dem Tod von Jules geschrieben wurde. Wie Du so schön schriebst: 'einen leicht melancholischen, wehmütigen Unterton'. (Ich bezweifle, dass der in den Werken herrschte, solang Jules noch am Leben war!) Tolle Rezi!
 
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Reaktionen: RuLeka und Die Häsin

Die Häsin

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Jetzt haben Dich die Goncourts aber gepackt ;) ! (Ich habe auch schon überlegt, w a s ich noch von ihnen lesen will!) Seltsam: da hatte ich noch gar nicht die Jahreszahl der Entstehung gelesen, 'wusste' ich, dass es von Edmond nach dem Tod von Jules geschrieben wurde. Wie Du so schön schriebst: 'einen leicht melancholischen, wehmütigen Unterton'. (Ich bezweifle, dass der in den Werken herrschte, solang Jules noch am Leben war!) Tolle Rezi!
Dankeschön! Ich habe das Buch aber schon vor Jahren hier bei einem Antiquar gekauft - nicht weil wir gerade Sulzer gelesen haben. Mich interessiert die Epoche, ich habe mir eine Zeitlang alles gekauft, was ich bei Antiquaren bekommen konnte, auch Maupassant zum Beispiel. Ich bin eine altmodische Leserin und lese gern Romane aus einer Zeit, wo nicht alles, was geschrieben wurde, von der durch Film und Fernsehen geprägten Bildwahrnehmung beeinflusst war.
Der zweite Roman in meiner Ausgabe, "Juliette Faustin", ist übrigens auch sehr interessant; ich schiebe mal hier eine Rezension nach, die ich vor Jahren in einem anderen Forum dazu geschrieben habe:


Juliette Faustin

In meiner Ausgabe steht als Vorwort (datiert 1881) folgende Vorrede zu dem 1882 erschienenen Roman:
"Ich möchte einen Roman machen, der (...) auf menschlichen Dokumenten beruht. Nun (...) finde ich, dass es den Büchern, die von Männern über Frauen geschrieben werden, an einer Sache mangelt ... an der Mitarbeit einer Frau, und mich würde es sehr nach dieser Mitarbeit verlangen, und zwar nicht nur von Seiten einer einzigen, sondern einer großen Anzahl von Frauen. (...) Und ich wende mich an meine Leserinnen aus allen Ländern mit der dringenden Bitte, in jenen leeren Stunden des Müßiggangs, in denen die Vergangenheit wieder erwacht, (...) einige der bei der Rückerinnerung auftauchenden Gedanken auf ein Stück Papier niederzuschreiben und es anonym an die Adresse meines Herausgebers zu schicken."

Vielleicht hat dieser Appell ursprünglich in einer Zeitung gestanden? Ich weiß nicht, ob Goncourt Antworten bekommen hat, und wenn ja, wieviel davon eingeflossen ist in seinen Roman aus der Perspektive einer "unbürgerlichen" Frau, einer Schauspielerin.

An anderer Stelle innerhalb des Romans (Kap. 31) schreibt er:
"Unter Frauen bürgerlicher Herkunft und Erziehung ist das Weib (...) sozusagen stets dasselbe Wesen, das Empfindungsvermögen der einen wie der andern scheint nach derselben Schablone gefertigt zu sein. Unter der Einwirkung äußerer Umstände hat die gut erzogene oder halbwegs gut erzogene Frau Abneigungen, Anwandlungen von Liebe oder Mitleid, sogar Nervenanfälle, die in einem für die ganze Klasse aufgestellten Erziehungsprogramm vorausgesehen und beschrieben zu sein scheinen." - kritische Worte von einem Bourgeois der damaligen Zeit!

Juliette Faustin, als "Tragödin" erfolgreich und gefeiert, ist von einem solchen Verhaltenskodex frei. Sie folgt ihren eigenen Neigungen, lebt mit einem Mann zusammen, den sie spontan wieder verlässt, nimmt ihren Beruf äußerst ernst, tut aber ansonsten immer, was sie will. Bei der Wiederbegegnung mit einem Jugendgeliebten, dem Engländer Lord Annandale, krempelt sie ihr ganzes Leben um, sagt alle Theaterverträge ab und zieht sich mit ihrem Lord aufs Land zurück. Goncourt ist jedoch viel zu sehr Realist, hier alles in eitel Sonnenschein enden zu lassen.

Wie auch "Die Brüder Zemganno" ist "Juliette Faustin" eine hochinteressante Milieustudie; in einzelnen Zügen manchmal etwas befremdlich (wenn zum Beispiel Juliette von einem Landsitz am Bodensee aus an ihre Schwester schreibt, dass man in Deutschland alles wegschließen müsse, weil die Leute "so diebisch" seien). Mich hat es nicht ganz so gefesselt wie "Die Brüder Zemganno", vielleicht wegen der etwas distanzierteren Erzählweise; aber es ist ebenfalls ein lesenswertes Buch. Ich habe eine Übersetzung von Albert Klöckner und Curt Noch aus dem Schünemann-Verlag, die - verglichen mit der bei Gutenberg vorliegenden Übersetzung - ein bisschen umständlich und wortreich ist. Wobei ich natürlich nicht weiß, welche Übersetzung authentischer ist.