Rezension Rezension (4/5*) zu Die allertraurigste Geschichte von Ford Madox Ford.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die allertraurigste Geschichte von Ford Madox Ford
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Der Erzähler, das geheimnisvolle Wesen

Kurz nach Ende des ersten Weltkriegs schrieb Ford Maddox Ford einen Roman, den er unter dem Titel „Die allertraurigste Geschichte“ veröffentlichen wollte. Sein Verleger allerdings konnte ihn davon überzeugen, dass dieser Titel angesichts der Grauen der gerade allgegenwärtigen Kriegserlebnisse und -folgen absolut unpassend gewesen wäre. Und so erschien der Roman zunächst unter dem Titel „The good soldier“. Als nun der Diogenes-Verlag den Roman wieder hervorholte und im Jahr 2018 neu veröffentlichte, tat er dies wieder unter dem Originaltitel. Und so haben wir sie wieder vor uns liegen: die allertraurigste Geschichte.
Auch heute, muss ich sagen, strotzt dieser Titel vor bissiger Ironie. Die Kluft zwischen dem Erzählten und dem tatsächlichen Leid der Welt ist auch ohne einen unmittelbar zurückliegenden Weltkrieg enorm groß und so macht schon der Titel deutlich: Wir haben es hier mit einer Geschichte zu tun, in der Wahrnehmung und Realität – Dichtung und Wahrheit – sehr weit auseinanderklaffen.
Die „allertraurigste“ Geschichte wird uns erzählt von John, der selbst zutiefst verstrickt ist in das geschilderte Geschehen. Es geht um zwei reiche Ehepaare, die sich über Jahre hinweg regelmäßig über mehrere Wochen zur Kur in Bad Nauheim treffen, wo zwei Personen der Paare ihre (angeblichen) Herzschwächen auskurieren sollen. Was sich zunächst als lockere und konfliktlose Verbindung zweier gleichgesinnter Ehepaare aus ähnlich gehobenen Gesellschaftsschichten anlässt, zeigt allerdings im Verlaufe der Handlung immer mehr erhebliche Risse, Brüche und Abgründe. Geheimnisse, Betrug, Ehebruch, Selbstmord sind einige der Elemente, die sich dem Leser in der Beziehung der vier Personen auf recht komplizierten Pfaden langsam erschließen. Kompliziert sind die Pfade dabei insbesondere durch die Erzählhaltung des Ich-Erzählers John, der u.a. alles dafür tut, seine eigene Rolle in diesem Ränkespiel zu verschleiern und zu vernebeln und auch sonst nicht interessiert ist an einer gradlinigen und informativen Erzählung des Geschehens. Ist es Unvermögen oder bewusstes Vernebeln? In der Rezeptionsgeschichte ist in dieser Hinsicht die Rede von einem „unzuverlässigen“ Erzähler, was die Sache sehr gut beschreibt. So hat der Leser ständig damit zu kämpfen, bewerten zu müssen, was er glauben kann und was er besser nicht für bahre Münze nimmt. Das macht die Lektüre sehr sperrig und eigenwillig. Leicht geht sie einem jedenfalls nicht von den Seiten.
Auf der anderen Seite aber baut sich dadurch auch eine Spannung auf, die der Lektüre einen ganz besonderen, wenn auch widerspenstigen Reiz gibt. Wer möchte sich schon gern von einem Buch und seinem Erzähler an der Nase herumführen lassen? Da gibt es dann zwei Reaktionen, die auch wohl beide in unserer Leserunde bei Whatchareadin zu beobachten waren:
Entweder man sagt: Das lasse ich doch nicht mit mir machen! Das heißt dann, man gibt auf und lässt sich nicht weiter auf die Lektüre ein. (Ich finde, eine durchaus verständliche Reaktion.)
Oder man sagt: Den Erzähler werde ich schon noch irgendwann „knacken“, sprich durchschauen. Das heißt, man kämpft, hält durch und kann durch dieses Ringen mit einer fiktionalen Figur eine ganz besondere Freude und einen ganz besonderen Genuss an der Lektüre finden. (Ich bin froh, dass ich es letztendlich zu dieser letzteren Reaktion geschafft habe, auch wenn es , zugegebenermaßen, nicht immer leicht war.)
Die Geschichte und die Figuren bleiben zudem bis zum Ende relativ platt. Ich fühlte mich stark erinnert an die russische Literatur des 19. Jahrhunderts, in der der Typus des „überflüssigen Menschen“ immer wieder beleuchtet wird. Solche „überflüssigen Menschen“ finden sich dort vor allem als Landadlige, dessen einzige Aufgabe darin besteht, ihre leibeigenen Bauern, die es im Grunde nur noch wegen einer längst überholten Gesellschaftsordnung gibt, zu verwalten und auszunutzen. Aus der Zeit gefallene Menschen, die ihre Nutz- und Zwecklosigkeit durchaus auch selbst verspüren und an der Sinnlosigkeit ihres Lebens verzweifeln. Das führt bei ihnen sehr oft dann zu einem Dahintreiben in einem Leben voller Langeweile und Sinnsuche. Eine ähnliche Situation sehe ich hier bei allen Hauptfiguren, John, Florence, Edward und Leonora, die sich ständig um sich selber drehen und kreisen, und so in Melancholie und Tristesse versinken.
So ist die erzählte Geschichte und die vermittelte Stimmung alles andere als ein Lesegenuss und doch komme ich am Ende zu einem positiven Lesefazit: Ein literarisch exzellent geschriebenes Experiment rund um eine ganz besondere Erzählhaltung, der ich gern 4 fette Sterne gebe.