Rezension (4/5*) zu Die Abtrünnigen von Abdulrazak Gurnah

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Abtrünnigen von Abdulrazak Gurnah
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Ostafrika mit anderen Augen sehen.

Sansibar! Ein Archipel vor Afrikas Ostküste, einst ein Sultanat, Umschlagplatz für Gold, Elfenbein und Sklaven, heute ein halbautonomer Teilstaat der Republik Tansania. Aber die Inselgruppe ist auch Schauplatz im neuesten Roman von Abdulrazak Gurnahs "Die Abtrünnigen".

Der nobelpreisgekrönte Autor beschreibt in seinen Werken die Geschichte seiner (tansanischen) Heimat, ihrer kolonialen Vergangenheit und deren Folgen von Heimatlosigkeit und Zerrissenheit. Er verknüpft die Geschicke zweier Familien miteinander, indem der seine beiden Hauptakteure gesellschaftlich geächtete Liebschaften eingehen lässt. Mit dem zeitlichen Abstand der zwei Ebenen, baut er gekonnt die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der ostafrikanischen Länder ein, konzentriert sich aber auf die unmittelbaren Auswirkungen der zwei Familien und verknüpft sie schließlich nach Jahrzehnten (2 Generationen) wieder miteinander.

Der erste Teil entführt den Leser in die Zeit um Neunzehnhundert, als noch ein osmanischer Sultan, zusammen mit den Briten die Handelswege mitbestimmte und die Bevölkerung Sansibars zwar bunt gemischt, in ihrem Alltag und Vierteln aber doch strikt getrennt waren. In dieser Zeit taucht ein hilfloser Orientalist im Ort auf und wird von der Kaufmannsfamilie gesund gepflegt. Dabei verliebt sich die Schwester des Kaufmanns in diesen britischen Ausländer und geht schließlich mit ihm nach Mombasa, wo sie letztendlich von ihm verlassen wird. Ihre Ehre ist beschmutzt.

Im zweiten Teil folgen wir drei Geschwistern in den 1950er Jahren, deren mittlerer Bruder sich in eine Frau verliebt, von der es heißt, dass sie indisches Blut in ihren Adern habe und deren Urgroßmutter einst einen Skandal auslöste. Der Kontakt zu dieser Frau wird dem Bruder untersagt und als er sich über alle Konventionen hinwegsetzten will, geschieht im Zuge der ploitischen Umwälzungen ein Unglück, dass eine erneute Annäherung unmöglich macht.

Es ist schon eine kleine Überraschung, wie diese beiden Schicksale miteinander verknüpft werden, man ahnt es zwar, aber nicht den Weg dorthin. Doch nicht diese fast schon kitschig anmutenden Lovestorys ohne happy End macht dieses Buch lesenswert, sondern die vielen kleinen Beobachtungen am Rande des Geschehens, die sehr eindringlich, manchmal aber auch etwas verwirrend daherkommen. Die Zeit, die zwischen den beiden Handlungen liegt, lassen deutlich die Veränderungen spüren, die aus einst auskömmlichen und zufriedenen Menschen, die offen über Grenzen handeln und reisen konnten, verängstigte Vertriebene gemacht hat, die nur auf dem Papier die Unabhängigkeit erlangt hatten. Eines aber hatte sich über all die Jahre nicht geändert, wer über die Toleranzgrenzen überschritt, war ein Abtrünniger.

Die Lektüre verlangt ein wenig Konzentration, denn sie erzählt viele Geschichten, die wichtig und würdig sind. Aber man kann sich auch fallen lassen und nur die Erzählung zweier großer Lieben genießen.

 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.606
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49
Brandenburg
In "Moral" bestreitet der Autor die Kausalität zwischen Reichtum und Kolonialismus.
Er sagt, nicht aufgrund von Sklavenhandel und Ausbeutung seien gewisse Länder reich geworden (und andere arm geblieben), sondern aufgrund der Auflösung familärer Clanstrukturen seien die westlichen Länder (und auch China, aber da war es ein anderer Mechanismus) in die Lage versetzt worden, individuell zu sein und damit in großen Gesellschaften auch mit Fremden zu kooperieren.