Rezension (4/5*) zu Die Abtrünnigen von Abdulrazak Gurnah

alasca

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13. Juni 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Abtrünnigen von Abdulrazak Gurnah
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Vielschichtig und facettenreich

Die Abtrünnigen - englisch „Desertion“, das Verlassen - spielt in zwei Zeiträumen – 1899 und Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Roman beginnt in einer kleinen Stadt an der ostafrikanischen Küste nördlich von Mombasa. Hassanali, ein lokaler Krämer, findet vor der Moschee einen bewusstlosen britischen Offizier, Martin Pearce, und nimmt ihn mit nach Hause, um sich um ihn zu kümmern. Infolge werden Martin und Hassanalis Schwester Rehana, gegen alle gesellschaftlichen Regeln, ein Liebespaar. Faszinierend der Einblick in die überwiegend muslimische Gesellschaft Sansibars, eine überraschend kosmopolitische Region mit Menschen aus der arabischen Welt, Afrika und Indien.

Zwischen den beiden Teilen des Romans gibt es einen Bruch, ein „Gedankliches Zwischenspiel“, das alles, was bislang erzählt wurde, relativiert. Als Erzähler des Romans gibt sich ein junger Mann namens Rashid zu erkennen, ein in Großbritannien lebender Sansibar-Exilant. Rashid hatte nur wenige Fakten. Was wir soeben gelesen haben und so glaubwürdig fanden, hat lediglich diese Fakten extrapoliert. Eine an der Stelle ziemlich ernüchternde Dekonstruktion.

Im zweiten Teil des Romans, der kurz vor der Unabhängigkeit Sansibars spielt, ist Rashids Bruder Amin eine Beziehung mit Jamila eingegangen, die sich als Rehanas Enkelin herausstellt. Rashids Familie zwingt seinen Bruder, Jamila nicht mehr zu sehen, wovon Amin sich nie mehr erholen wird. Rashid geht nach England, um zu studieren. Hier befindet er sich in der erzählten Gegenwart immer noch.

Worum geht es nun in diesem Roman? Das große Thema ist die Kolonialisierung Sansibars, Gurnahs Geburtsort. Aber Gurnah wäre nicht Gurnah, wenn er seinem Thema nicht mehr Resonanz verleihen würde: Es geht um Geschichte und die Geschichten, die wir uns erzählen. Warum lässt Amin sich seine große Liebe verbieten? Warum geht Rashid nach England? Warum fühlen sich die Kolonialherren zu ihrer Handlungsweise berechtigt? Was können wir wissen, wenn Geschichte von den Siegern geschrieben wird? Es sind die Zuschreibungen in Gesellschaft und Familie, es sind die nationalen Narrative, die das Handeln und das Leben der Menschen beeinflussen.

Rashids Geschichte im Exil ist eine der Ausgrenzung. „…die erste Lektion, die mir in London erteilt wurde, war, mit der Geringschätzung der anderen leben zu lernen. […] So musste ich also […] begreifen, […] wie tief die Geschichten über unsere Minderwertigkeit und die Angemessenheit der europäischen Oberherrschaft in […] die Welt eingegraben waren.“ Aufgrund der Sansibar-Revolution kann er nicht einmal in sein Heimatland zurückkehren. Seine Erfahrung als Exilant wird sehr eindrücklich beschrieben.
Das zweite Thema des Romans ist das Verlassen und Verlassenwerden, wie schon der Titel „Desertion“ suggeriert. (Der deutsche Titel ist aus meiner Sicht irreführend). Rehana wird verlassen, Jamila ebenso. Rashid verlässt seine Familie, Großbritannien entlässt (verlässt?) Sansibar und Tansania in die Freiheit, worauf das Drama des Bürgerkrieges sich entrollt. Rashid wird von seiner britischen Ehefrau verlassen und fühlt sich heimatlos und verlassen im Exil. „Desertion“ ist eine Geschichte des Verlustes, des Verrats, der Einsamkeit und der Trauer.

Die Struktur des Romans mit seinen zwei Teilen, die zunächst unverbunden erscheinen, habe ich als durchaus herausfordernd empfunden. Gurnah bricht immer wieder die Fiktion und schafft eine Fiktion in der Fiktion, so dass Historisches, Fiktionales, Persönliches und Gesellschaftliches sich höchst kunstvoll vermischen und durchdringen, aber auch eine gewisse Inkohärenz und Distanz erzeugen.
Dennoch hat der Text mich gefesselt und beeindruckt. An keiner Stelle lässt Gurnah sich dazu verleiten, Klischees zu vertiefen; das Bild, das er malt, hat Licht und Schatten, vor allem aber eine Vielzahl an Grautönen. Dazu passt das versöhnliche Ende des Romans. Erst als Rashid auf eine Nachfahrin von Martin Pearce stößt und sich die Geschichten beider Familien dadurch zu einem gemeinsamen Narrativ vereinen, scheint es so etwas wie Zukunft in seinem Exil zu geben.

Nicht Gurnahs stärkster Roman, aber dennoch herausragend in seiner Vielschichtigkeit.


 
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