Rezension (4/5*) zu Der zweite Jakob: Roman von Norbert Gstrein

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der zweite Jakob: Roman von Norbert Gstrein
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Eine andere Art des Unglücks⁣

Mir gefällt, wie klar, wie ruhig der Schreibstil ist, wie selbstverständlich er auch Lücken zulässt – sowohl in der Handlung als auch im Gefühlsleben des Protagonisten –, die Leser:innen dann mit den eigenen Erwartungen, Vorstellungen und Gedanken füllen können. Dabei hinterlässt Gstrein aber genug Wegmarken im Text, in Form von prägenden Beziehungen und Schlüsselelementen dieses schwierigen Lebens, dass achtsames Ergänzen nicht in belangloser Beliebigkeit endet. Ich hatte das Gefühl, diesen Mensch im Kern zu kennen, ohne die Notwendigkeit, ihn im Detail zu kennen.⁣

“Es war Herbst, und ich irrte mit dem anhaltenden Gefühl durch meine Tage, Staub und Splitter würden in Zeitlupe unaufhörlich auf mich herunterrieseln und ich wartete auf den Knall der Explosion, die sich irgendwann ereignet haben musste, oder hatte vielleicht auch nur mein Gehör verloren.”⁣
(Zitat)⁣

Die Lebensgeschichte des „zweiten Jakobs“ ist durchzogen von Momenten, in denen eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre, in denen er aber auf die verschiedensten Arten scheitert oder Schuld auf sich lädt. In jeder Szene schwingt eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten mit. Oft sind es seine Beziehungen zu den Frauen in seinem Leben (er war viermal verheiratet), die im Guten wie im Schlechten als Katalysator wirken.⁣

Die wichtigste dieser Beziehungen ist die zu seiner Tochter Luzie, die eine „Komische“ ist. Gstrein verzichtet darauf, ihre Andersartigkeit mit einer Diagnose zu versehen, beschreibt jedoch hier und dort Verhaltensweisen, die typisch sind für Menschen auf dem autistischen Spektrum. Der Protagonist liebt seine Tochter, ehrlich und bedingungslos, neigt aber gerade deswegen zu einem überbehütendem, übergriffigem Kontrollzwang, was sie betrifft.⁣

“Ich dachte zuerst, der Laut würde von irgendwo unter dem Tisch kommen, aber dann sah ich, wie Luzie sich mit der Hand an den Mund fuhr, und obwohl sie ihre Lippen kaum bewegt hatte, konnte dieses fiepende Wehklagen nur von ihr stammen.”⁣
»Ihr habt was, Papa?«⁣
(Zitat)⁣

Dass er sich gezwungen sieht, ausgerechnet ihr seinen vermeintlich größten Moment der Schuldhaftigkeit zu beichten, rückt diesen geradezu albtraumhaft in den Fokus. Sein Verhalten in diesem Augenblick war so entschlossen, so bar jeden Zögerns, dass es die Frage aufwirft: ist dies der „echte“ Jakob – das, was übrigbliebe, könne er jegliche gesellschaftliche Moralvorstellungen und Prägungen abwerfen? Ein anderer Moment, in meinen Augen noch verwerflicher als der gebeichtete, schwingt immer wieder mit, bringt ihn selber an den Rand der Verzweiflung, weil er es nicht vermag, vor der Selbsterkenntnis die Augen zu verschließen.⁣

Seine erste Rolle als Schauspieler war die eines Frauenmörders, den er offensichtlich sehr überzeugend spielte – seither versucht er, aus dieser Schiene auszubrechen, wird jedoch immer wieder als Mörder, als Scheusal, besetzt. Er weist weit von sich, dass dies seinem Wesen entspräche, und doch fragte ich mich als Leserin immer wieder: siehst du nicht, wie nahe du diesem Scheusal in dir manchmal kommst? Nein, er ist kein Mörder, nein, er schlägt seine Geliebten nicht – aber da ist ein gewisses namenloses, undefiniertes Potenzial.⁣

“Es gab nicht zu beschönigen an der Situation, der Alkohol, und welche Substanzen auch immer in den selbstgedrehten Zigaretten gewesen sein mochten, waren nur eine Ausrede, ich wusste genau, was da passierte, was ich tat, was ich passieren ließ, und doch folgten ein paar Augenblicke, die alles viel schlimmer machten. Das war, als ich zuerst eine Hand und gleich auch die andere in das Haar des Mädchens krallte und ihren Kopf mit beiden Händen umfasst hielt. Ich spürte ihren Schrecken, noch bevor sie in ihrer Bewegung zögerte, ich spürte, wie es ihren ganzen Körper durchschoss (…).”⁣
(Zitat)⁣

Die Charaktere werden meines Erachtens großartig beschrieben, ungemein prägnant. Auch hier geht Gstrein nicht ausufernd ins Detail, sondern schildert stattdessen Momente, die die Quintessenz ihres Wesens deutlich machen. Allerdings wird ausgerechnet der „erste Jakob“ – der Onkel, dessen Vornamen der Protagonist als Künstlernamen übernommen hat – beinahe vollständig ausgespart, obwohl der „zweite Jakob“ ihm übel mitgespielt hat. Erst ganz am Schluss macht sich seine Tochter Luzie auf, Onkel Jakob kennenzulernen – im Rahmen einer Reise, bei der sie die Orte und Menschen aufsucht, sofern möglich, bei denen ihr Vater Schuld auf sich geladen hat.⁣

Fazit:⁣

Jakob, ein bekannter Schauspieler, wird von seiner Tochter gefragt, was das Schlimmste sei, das er je getan habe. Er kennt sie zu gut, um zu versuchen, sie mit Ausflüchten abzuspeisen, obwohl er sich davor fürchtet, diese Erinnerungen wieder abzurufen und laut auszusprechen. Doch er wagt den Sprung, lässt kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag die Abgründe und Schattenwege seines Lebens im Geiste auferstehen, um vor seiner Tochter und sich selber seine Schuld anzuerkennen.⁣

Der Autor erzählt mit dezenter Zurückhaltung, dabei aber nicht belanglos oder weniger ausdrucksstark. Jaokobs Geschichte ist komplex und lässt viel Interpretationsspielraum offen, doch klar wird immer wieder: sein Leben war eines voller Entscheidungen, die die Weichen unwiderruflich neu justieren – wenn auch manchmal nur die Weichen des eigenen Ethos. Die Leserin fragt sich: wer ist Jakob im Kern seines Wesens wirklich?⁣

Die anderen Charaktere werden ungeschönt geschildert, dabei aber nicht überdramatisiert. Oft deutet Gstrein Wesenszüge nur an oder lässt sie indirekt, im Scherenschnitt zu Jakobs Eigenschaften gesehen, einfließen. Für mich ergaben dies in Verbindung mit dem ruhigen, klaren Schreibstil ein rundes, überzeugendes Bild.

 
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Reaktionen: Wandablue

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Erstaunlich. Ich habe mich ganz schön gelangweilt.
Das Vergehen Jakobs erschien mir keineswegs so schlimm, dass man daran ein Leben lang rumlaboriert oder dass seine Tochter es sooo schlimm finden könnte - es sei denn, er hat gelogen. Und ich glaube, dass das so war.
 

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