Rezension Rezension (4/5*) zu Der unsichtbare Roman von Christoph Poschenrieder.

Literaturhexle

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Buchinformationen und Rezensionen zu Der unsichtbare Roman von Christoph Poschenrieder
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Eine schillernde Persönlichkeit und ein unmoralisches Angebot

Die Hauptperson des Romans, Gustav Meyrink, wurde 1868 in Wien geboren. Über verschiedene berufliche Stationen, die nicht immer von Erfolg gekrönt waren, wurde er Schriftsteller. Zunächst veröffentlichte Meyrink in Zeitschriften, hervorzuheben ist das satirische Münchner Wochenblatt „Der Simplizissimus“. Er schrieb Erzählungen und Theaterstücke. Im Jahre 1915 gelang ihm mit dem Roman „Der Golem“ ein außerordentlicher Erfolg, der ihn bekannt machte. Der vorliegende Roman setzt im Jahre 1917 ein, als Meyrink gemeinsam mit vier weiteren Spiritisten versucht, bei sich zu Hause mit dem Jenseits Kontakt aufzunehmen. Eine Posse, die den Leser gleich mitten hinein die Geschichte katapultiert:

„Es. klopft.
Teufel noch mal, denkt Meyrink, wer klopft? Der Einzige, der hier klopfen darf – und zu gegebener Zeit auch klopfen wird - , bin ich, und ich habe nicht geklopft.“ (S. 11)

Vor der Tür steht ein Bote, der einen Brief übergibt. Das Auswärtige Amt Berlin hat sich zum Ziel gesetzt, dem Volk einen (oder mehrere) Schuldige am ersten Weltkrieg zu präsentieren. Zu diesem Zweck soll ein talentierter Autor einen Roman verfassen, der das entsprechende Thema aufbereitet und gekonnt den Sündenbock, die Freimaurer, herausarbeitet. Die Wahl zum Schreiber dieser Geschichte ist auf Gustav Meyrink gefallen. Überrascht steht er zunächst dem Ansinnen ablehnend gegenüber, auch weil er sich bislang nie für die große Politik interessiert hat:

„Gäbe man ihm eine Fahne in die Hand – er schwenkte sie nicht, täte ihr womöglich Dinge an, die ihn ins Gefängnis brächten. Patriotismus ist ihm ein Fremdwort, Vaterland sagt ihm nichts; nicht einmal in seiner Muttersprache.“ (S. 37)

Trotzdem fährt Meyrink mit dem Zug nach Berlin, um Näheres in Erfahrung zu bringen. Im Abteil begegnet er Soldaten:

„Die Uniformen der Soldaten sind ramponiert, sie fahren nach Hause, auf Zeit. Sehen fast bedrückter aus als jene, die zur Front unterwegs sind, denkt Meyrink. Wenn ich diese Männer nun fragte, wer schuld am Krieg ist, was würden sie sagen? Aber was weiß der Nagel schon über den Hammer, der ihn ins Holz treibt? Wer den Hammer führt und auf wessen Geheiß?“ (S. 55)

Im Auswärtigen Amt trifft der Autor auf Kurt Hahn, der ihm den Auftrag genauer vorstellt:
„Ich komme sofort auf den Punkt. Worte sind heute Schlachten. Richtige Worte gewonnene Schlachten, falsche Worte verlorene Schlachten. Wir führen, neben dem Stählernen dort draußen, einen Krieg der Worte.“ (S. 61)

Es geht also darum, bewusst die Unwahrheit im Sinne der Mächtigen zu verkünden. Ein Thema, das heute wieder ebenso aktuell scheint wie damals! Meyrink gilt als international bekannt und neutral. Die Konditionen sind günstig, die halbe Summe gibt es sogar als Vorschuss. Die Familie will versorgt sein und der Autor liebt einen aufwändigen Lebensstil. Schließlich nimmt er das Angebot an.

Meyrink beginnt zu recherchieren. Er spricht mit seinen Freunden, dem Antimilitaristen Erich Mühsam und dem sozialdemokratischen Publizisten Kurt Eisner. Beide sind politisch aktiv und haben Einblicke in die Szene.

In Rückblicken werden wichtige Stationen im Leben Gustav Meyrinks beleuchtet, dessen Biografie wahrlich nicht in geraden Linien verlief. Er war Goldsucher, Bankier und Lebenskünstler, kam aus Lust zur Schriftstellerei. Jetzt hat er einen Auftrag, an dem er nicht voran kommt. Die Freimaurer sollen die Schuldigen am Kriege sein. Wie das beweisen, wie die Geschichte aufbauen:

„Merke außerdem: Von zwei Versionen einer Geschichte überlebt stets die interessante, nicht die wahre.“ (S. 169)

Die Auftraggeber machen Druck, die Zeit rennt davon, eine Niederlage droht, so dass sich der angeforderte Roman selbst überholen könnte. Der Autor ist nicht der Fleißigste, findet so recht keinen Anfang und hält die Obrigkeit hin.

Poschenrieder hat eine interessante Art, seine Geschichte zu erzählen. Er spielt mit der Wahrheit. Er unterlegt die dargelegten Sachverhalte mit authentisch anmutenden Recherchenotizen, die den Leser auch am Schaffensprozess eines Autors teilhaben lassen. Entsprechend ist der Roman in die Abschnitte „Vorher“, „Anfang“, Mitte“ und „Schluss“ eingeteilt, die sich am Aufbau eines Buches orientieren.

Man fragt sich bald, ob es den unseriösen Auftrag wirklich gegeben hat. Manches ist biografisch verbrieft, auch wenn es höchst unglaubwürdig scheint. Man wird immer wieder verunsichert bei der Frage, was Realismus ist und was Fiktion. Der Aufbau des Romans ist besonders, fordert aber auch die Aufmerksamkeit des Lesers.

Herausragend ist der Schreibstil: Poschenrieder hat eine ausgezeichnete sprachliche Brillanz: Dialoge mit Esprit und Wortwitz, präzise formulierte Weisheiten und nachdenkliche Passagen, ein Spiel mit Sprache, das seinesgleichen sucht – all das findet sich in diesem Buch.

So packend wie der Beginn, so überraschend ist auch das Ende. Allein im Mittelteil fühlte ich mich zeitweise etwas abgehängt. Zu viele Episoden aus Meyrinks bewegter Vergangenheit erschwerten es mir, durchgängig den roten Faden zu behalten.

Ich empfehle diesen Roman allen Lesern, die Freude an biografisch geprägten Romanen haben und den Schriftsteller Gustav Meyrink in seiner Zeit besser kennenlernen möchten. Die Sprachakrobatik Poschenrieders ist ein Genuss. Hinzu kommt natürlich der überaus aktuelle Bezug in Zeiten bewusst gesetzter Fake-News, mit denen die Mächtigen das Volk instrumentalisieren möchten.


 

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Die Hauptperson des Romans, Gustav Meyrink, wurde 1868 in Wien geboren. Über verschiedene berufliche Stationen, die nicht immer von Erfolg gekrönt waren, wurde er Schriftsteller. Zunächst veröffentlichte Meyrink in Zeitschriften, hervorzuheben ist das satirische Münchner Wochenblatt „Der Simplizissimus“. Er schrieb Erzählungen und Theaterstücke. Im Jahre 1915 gelang ihm mit dem Roman „Der Golem“ ein außerordentlicher Erfolg, der ihn bekannt machte. Der vorliegende Roman setzt im Jahre 1917 ein, als Meyrink gemeinsam mit vier weiteren Spiritisten versucht, bei sich zu Hause mit dem Jenseits Kontakt aufzunehmen. Eine Posse, die den Leser gleich mitten hinein die Geschichte katapultiert:

„Es. klopft.
Teufel noch mal, denkt Meyrink, wer klopft? Der Einzige, der hier klopfen darf – und zu gegebener Zeit auch klopfen wird - , bin ich, und ich habe nicht geklopft.“ (S. 11)

Vor der Tür steht ein Bote, der einen Brief übergibt. Das Auswärtige Amt Berlin hat sich zum Ziel gesetzt, dem Volk einen (oder mehrere) Schuldige am ersten Weltkrieg zu präsentieren. Zu diesem Zweck soll ein talentierter Autor einen Roman verfassen, der das entsprechende Thema aufbereitet und gekonnt den Sündenbock, die Freimaurer, herausarbeitet. Die Wahl zum Schreiber dieser Geschichte ist auf Gustav Meyrink gefallen. Überrascht steht er zunächst dem Ansinnen ablehnend gegenüber, auch weil er sich bislang nie für die große Politik interessiert hat:

„Gäbe man ihm eine Fahne in die Hand – er schwenkte sie nicht, täte ihr womöglich Dinge an, die ihn ins Gefängnis brächten. Patriotismus ist ihm ein Fremdwort, Vaterland sagt ihm nichts; nicht einmal in seiner Muttersprache.“ (S. 37)

Trotzdem fährt Meyrink mit dem Zug nach Berlin, um Näheres in Erfahrung zu bringen. Im Abteil begegnet er Soldaten:

„Die Uniformen der Soldaten sind ramponiert, sie fahren nach Hause, auf Zeit. Sehen fast bedrückter aus als jene, die zur Front unterwegs sind, denkt Meyrink. Wenn ich diese Männer nun fragte, wer schuld am Krieg ist, was würden sie sagen? Aber was weiß der Nagel schon über den Hammer, der ihn ins Holz treibt? Wer den Hammer führt und auf wessen Geheiß?“ (S. 55)

Im Auswärtigen Amt trifft der Autor auf Kurt Hahn, der ihm den Auftrag genauer vorstellt:
„Ich komme sofort auf den Punkt. Worte sind heute Schlachten. Richtige Worte gewonnene Schlachten, falsche Worte verlorene Schlachten. Wir führen, neben dem Stählernen dort draußen, einen Krieg der Worte.“ (S. 61)

Es geht also darum, bewusst die Unwahrheit im Sinne der Mächtigen zu verkünden. Ein Thema, das heute wieder ebenso aktuell scheint wie damals! Meyrink gilt als international bekannt und neutral. Die Konditionen sind günstig, die halbe Summe gibt es sogar als Vorschuss. Die Familie will versorgt sein und der Autor liebt einen aufwändigen Lebensstil. Schließlich nimmt er das Angebot an.

Meyrink beginnt zu recherchieren. Er spricht mit seinen Freunden, dem Antimilitaristen Erich Mühsam und dem sozialdemokratischen Publizisten Kurt Eisner. Beide sind politisch aktiv und haben Einblicke in die Szene.

In Rückblicken werden wichtige Stationen im Leben Gustav Meyrinks beleuchtet, dessen Biografie wahrlich nicht in geraden Linien verlief. Er war Goldsucher, Bankier und Lebenskünstler, kam aus Lust zur Schriftstellerei. Jetzt hat er einen Auftrag, an dem er nicht voran kommt. Die Freimaurer sollen die Schuldigen am Kriege sein. Wie das beweisen, wie die Geschichte aufbauen:

„Merke außerdem: Von zwei Versionen einer Geschichte überlebt stets die interessante, nicht die wahre.“ (S. 169)

Die Auftraggeber machen Druck, die Zeit rennt davon, eine Niederlage droht, so dass sich der angeforderte Roman selbst überholen könnte. Der Autor ist nicht der Fleißigste, findet so recht keinen Anfang und hält die Obrigkeit hin.

Poschenrieder hat eine interessante Art, seine Geschichte zu erzählen. Er spielt mit der Wahrheit. Er unterlegt die dargelegten Sachverhalte mit authentisch anmutenden Recherchenotizen, die den Leser auch am Schaffensprozess eines Autors teilhaben lassen. Entsprechend ist der Roman in die Abschnitte „Vorher“, „Anfang“, Mitte“ und „Schluss“ eingeteilt, die sich am Aufbau eines Buches orientieren.

Man fragt sich bald, ob es den unseriösen Auftrag wirklich gegeben hat. Manches ist biografisch verbrieft, auch wenn es höchst unglaubwürdig scheint. Man wird immer wieder verunsichert bei der Frage, was Realismus ist und was Fiktion. Der Aufbau des Romans ist besonders, fordert aber auch die Aufmerksamkeit des Lesers.

Herausragend ist der Schreibstil: Poschenrieder hat eine ausgezeichnete sprachliche Brillanz: Dialoge mit Esprit und Wortwitz, präzise formulierte Weisheiten und nachdenkliche Passagen, ein Spiel mit Sprache, das seinesgleichen sucht – all das findet sich in diesem Buch.

So packend wie der Beginn, so überraschend ist auch das Ende. Allein im Mittelteil fühlte ich mich zeitweise etwas abgehängt. Zu viele Episoden aus Meyrinks bewegter Vergangenheit erschwerten es mir, durchgängig den roten Faden zu behalten.

Ich empfehle diesen Roman allen Lesern, die Freude an biografisch geprägten Romanen haben und den Schriftsteller Gustav Meyrink in seiner Zeit besser kennenlernen möchten. Die Sprachakrobatik Poschenrieders ist ein Genuss. Hinzu kommt natürlich der überaus aktuelle Bezug in Zeiten bewusst gesetzter Fake-News, mit denen die Mächtigen das Volk instrumentalisieren möchten.



Deine Rezension ist sehr aussagekräftig. Ich kann mir jetzt nicht nur vorstellen, um was es geht, sondern ich bin aufgrund Deiner Ausführungen und Zitate auch überzeugt, dass der Autor eine brillante sprachliche Ausdrucksfähigkeit hat. Deine Rezension hat mich neugierig gemacht. Da das Thema selbst mich aber nicht so reizt und es so viele Bücher gibt, die eine stärkere Verführungskraft auf mich haben, werde ich es wohl nicht lesen. Frei nach dem Motto: begrenzte Lebenszeit – begrenzte Lebenszeit; also Prioritäten setzen.