Rezension Rezension (4/5*) zu Der Stotterer von Charles Lewinsky.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Stotterer von Charles Lewinsky
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Das Spiel mit der Wahrheit...

Der Stotterer hat früh gelernt, das Sprechen zu vermeiden und sich stattdessen schriftlich auszudrücken. Und er lernt auch bald, dass sich die Menschen mit geschreibenen Texten leicht manipulieren und ausbeuten lassen. Wegen Betrugs im Gefängnis gelandet, versucht er den Gefängnispfarrer davon zu überzeugen, dass eigentlich seine Eltern und ihr Sektenguru, die Hänseleien der Mitschüler und die Trauer um die verstorbene Schwester an seinen Taten schuld seien. In seinen Erzählungen spielt er mit Dichtung und Wahrheit, mit Anklagen und Ausflüchten, er philosphiert, phantasiert, verschleiert und erfindet - bis schließlich ein Lichtschimmer hinter dem vergitterten Fenster zu erkennen ist...

Einen Schelmenroman kann man dieses neue Werk von Charles Lewinsky wohl guten Gewissens nennen. In der Ich-Perspektive erzählt der Stotterer alias Johannes Hosea Stärckle von den aktuellen Gegebenheiten im Gefängnis, dem Grund für seinen Aufenthalt hinter Gittern, seiner unrühmlichen und auch tragischen Vergangenheit sowie von einigen seiner eigenen Eitelkeiten, Hoffnungen und Träume. Wobei - von Erzählen kann hier nicht die Rede sein, denn schließlich handelt es sich hier um einen Stotterer. Vielmehr erfährt der Leser von den genannten Hintergründen vornehmlich durch Briefe des Stotterers an den Gefängnispfarrer sowie durch heimliche Tagebucheintragungen.

Vom Leben zum Zyniker geprägt, laviert der Stotterer den Leser durch markante Stationen seines Lebens, wobei er von Anfang an offen macht, dass man nie wissen kann, ob man in dem Geschriebenen nun der Wahrheit begegnet oder nicht. Der Stotterer ist nicht nur zynisch, sondern als Erzähler auch unzuverlässig - und macht daraus keinen Hehl. Der Stotterer als Charakter ist nicht sonderlich sympathisch, auch wenn ich ihn für das, was er an moralisch fragwürdigen Handlungen begangen haben mag, nicht verurteile. Letztlich war mir der Protagonist sogar herzlich egal.


"Eitelkeit, Egoismus und Größenwahn, das waren die Triebfedern meines Handelns." (S. 87)


Viel spannender als die mal so und mal anders erzählte Lebensgeschichte des Stotterers fand ich hier das Spiel mit der Wahrheit. Ich ertappte mich ständig dabei, herausfinden zu wollen, welche der vorgestellten Versionen nun der Wahrheit am nächsten kommen würde. Und wie ich in der Leserunde zu dem Roman feststellen konnte, war ich damit nicht alleine. Bis ich plötzlich laut lachen musste, als ich merkte, wie sehr wir Leser hier an der Nase herumgeführt wurden.

Natürlich entspricht hier gar nichts der Wahrheit, denn alles ist reine Erfindung! Nämlich die von Charles Lewinsky, und mir scheint, dass er hier der eigentliche Schelm ist. Im Text lassen sich viele Andeutungen und Anspielungen finden, die herausstellen, dass es DIE Wahrheit gar nicht gibt, dass jeder darin etwas anderes sieht und dass auch Erinnerungen nicht objektiv sind, sondern vom Träger dieser Erinnerungen so verändert werden, bis sie besser 'passen'. Dazu kommt noch der Aspekt, welche Version von 'Wahrheit' welcher Leser wohl bevorzugt - und dementsprechend bedient der Stotterer seine Leser eben mit unterschiedlichen Wahrheiten...


"Sie sind der Meinung, dass ein Autor an das, was er zu Papier bringt, auch glauben muss. Ich meine: Er muss nicht. Geschichtenerfinder müssen keine Bekenner sein, sondern gute Lügner. Wer ein Märchen erzählt, muss an die Feen und sprchenden Tiere nicht glauben. Er muss sie nur so beschreiben können, dass der Leser daran glaubt..." (S. 215)


Der Roman liest sich flüssig und gefällig, wobei die eingeschobenen 'Fingerübungen' - kleine Kurzgeschichten des Stotterers, um seine Schreibfähigkeit zu verbessern - zwar durchaus lesenswert sind, den Lesefluss aber immer wieder unterbrechen und teilweise auch mir unnötig scheinende Längen ins Spiel bringen. Sprachlich gefiel mir das Ein-Personen-Stück dagegen sehr gut... Der Sprachwitz, die zynischen Umschreibungen und der bitterböse Humor sind sehr unterhaltsam, und die Bibelfestigkeit des Stotterers auf der einen Seite sowie die Schopenhauer-Zitate auf der anderen sind fast schon bewundernswert.

Das Spiel mit der Wahrheit treibt Charles Lewinsky hier bis zur Perfektion - und der Leser fällt fast zwangsläufig darauf herein. Ein sprachlich versiertes Schelmenstück, das mich gut unterhalten konnte!


© Parden


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