Rezension (4/5*) zu Der Schlafwagendiener (Quartbuch) von Suzette Mayr

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Schlafwagendiener von  Suzette Mayr
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Fahr lieber mit der Bundesbahn

Kanada, im Jahre 1929: Schlafwagendiener Baxter rattert im Nachtzug von Montréal nach Vancouver. Mit ihm an Bord sind unter anderem ein Schauspieler, eine Schriftstellerin, ein Medium und eine Oma mit ihrer Enkelin. Niemand der Fahrgäste kennt den Traum des Dieners. Denn Baxter nimmt diesen Knochenjob nur in Kauf, weil er auf sein Zahnmedizinstudium spart. Bis dahin heißt es also Schuhe wienern, die Toilette putzen und manchmal sogar - natürlich heimlich - sexuelle Dienstleistungen übernehmen. Wobei Baxter noch mehr verheimlichen muss, denn er steht im gesellschaftlichen System nicht nur wegen seiner Hautfarbe ganz unten, sondern ist zudem auch noch homosexuell. Als der Zug jäh durch eine Schlammlawine gebremst wird, überwältigt der Schlafmangel Baxter immer stärker. Geplagt von Halluzinationen sehnt der Schlafwagendiener das Ende der Reise herbei - wohl das Einzige, was ihn mit den Fahrgästen eint....

"Der Schlafwagendiener" ist der sechste Roman der kanadischen Autorin Suzette Mayr, der kürzlich in der Übersetzung aus dem Englischen von Anne Emmert bei Wagenbach erschienen ist. Es ist erst der zweite Roman Mayrs, der auf Deutsch übersetzt wurde. Hoffentlich nicht der letzte, denn 2022 erhielt sie für ihn den renommierten kanadischen Giller Prize.

Liest man etwas von einem Schlafwagen, mag einen selbst gleich die Müdigkeit überfallen. Bei Suzette Mayr ist das hingegen ausgeschlossen, denn die Autorin wirft die Leserschaft sofort hinein in eine schier unglaubliche Hektik. Gemeinsam mit Baxter wird hier noch die letzte Koje vorbereitet, während dort schon der erste Fahrgast wartet. Wann trifft der Zug wo ein, wann fahren wir endlich ab und wo, verdammt nochmal, ist eigentlich mein Abteil? In diesem Stil merkt man von Beginn an, welch aufreibenden Job Baxter und seine Kollegen dort verrichten müssen. Passend dazu setzt Mayr auf das erzählerische Präsens, das immer eine besondere Unmittelbarkeit ausdrückt. Dabei befinden wir uns bisher lediglich im "Vorher", einem langen Epilog, der den Protagonisten seinem Publikum näher vorstellt.

Und dieser Baxter ist zweifelsohne ein Sympathieträger. Nach außen hin erträgt er stoisch sämtliche Erniedrigungen und Demütigungen, doch innerlich brodelt auch er. Wir werden diesen Baxter den gesamten Roman über nicht aus den Augen verlieren. Keine Szene funktioniert ohne ihn, und wir wissen über die Fahrgäste immer genau das, was auch Baxter weiß. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist von Suzette Mayr äußerst klug konzipiert, denn dadurch wachsen nicht nur Sympathie und Empathie für den Helden, sondern es sorgt auch für Spannung, da man nie weiß, was hinter welcher Tür eigentlich gerade geschieht. Es sei denn, Baxter blickt hinein...

Da können die Nebenfiguren nicht ganz mithalten, sollen sie wahrscheinlich aber auch gar nicht. Denn zwischen ihnen und Baxter herrscht so etwas wie eine wechselseitige Anonymität. Baxter ist für die meisten Passagiere nur "Diener", "George" oder "Boy" und fühlt sich bisweilen als Möbelstück, während er seinerseits jeden der Passagiere mit Spitznamen belegt, sei es nun "Pudding", "Mango" oder "Pappe und Papier". Eine Ausnahme bildet die kleine Esme, das einzige Kind, das im Roman auftaucht. Das Mädchen, das gerade seine Mutter verloren hat, weicht dem Schlafwagendiener ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr von der Seite und wird dadurch zu einer zweiten Sympathieträgerin. Die anderen Figuren wirken bisweilen etwas eindimensional oder überspitzt, wobei einige von ihnen im Finale durchaus noch zu überraschen wissen.

Züge sind ja oftmals ein dankbares Setting für gute Romane, wie beispielsweise zuletzt auch "Wunderkind Erjan" von Hamid Ismailov oder "Was geschieht in der Nacht" von Peter Cameron. So auch hier, wo im Hauptstrang der Zug bzw. sein Umfeld sogar überhaupt nicht verlassen werden. Fernab jeglicher Eisenbahnromantik sollte Suzette Mayr somit auch passionierte Bahnfahrer:innen ansprechen. Und dennoch kommt nicht nur der Zug zwischenzeitlich zum Stillstand, sondern auch die Dynamik des Romans. Die Fahrgäste wenden sich mit immer den gleichen Fragen und Problemen an Baxter, was nicht nur ihn, sondern auch die Leser:innen zunehmend nervt. Hier hätte dem "Schlafwagendiener" eine Straffung oder andere Entwicklung gut getan. Hinzu kommt, dass von den zahlreich eingesetzten bildhaften Vergleichen nicht jeder gleichermaßen passt. Insbesondere die anfänglich immer wiederkehrenden Eisenbahn-Bilder wirken teilweise etwas bemüht oder repetitiv.

Das ist allerdings Kritik auf hohem Niveau, denn im Finale legt nicht nur der Zug noch einmal zu, sondern auch Suzette Mayr. Nachdem die Leserschaft eine recht alberne Séance ertragen musste, besinnt sich der Roman nämlich seiner Stärken: der Empathie, Solidarität und Warmherzigkeit, die Mayr mit dem Buch Minderheiten entgegenbringt. Sicherlich sah man schon Schlafwagendiener in Filmen durchs Bild huschen, aber wer schrieb jemals so ernsthaft und ausführlich über sie? Zeitgleich behandelt Mayr auch heute noch gesellschaftlich wichtige Themen wie Rassismus und den Umgang mit Homosexualität, der in der historischen Perspektive aufgrund der Strafbarkeit ungleich dramatischer war. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch die sage und schreibe drei Seiten lange Literaturliste, die Mayr bei der Recherche für das Schreiben eines Romans (!) aufgewendet hat. Dies unterstreicht, wie sehr ihr dieses Thema am Herzen lag und sorgt für zahlreiche zusätzliche Sympathiepunkte. Erwähnt werden sollte auch die formal liebevolle Aufmachung. Da gibt es die Jobanzeige für Schlafwagendiener, den Aufbau eines Waggons oder auch mal ein kleines Schriftbild, wenn die ihrerseits kleine Esme etwas flüstert.

Insgesamt ist "Der Schlafwagendiener" eine liebevolle und unterhaltsame Zugreise in eine Zeit, in der sich in Kanada ein Schwarzer darüber Gedanken machen musste, ob er in einer öffentlichen Toilette neben einem Weißen stehen darf. In eine Zeit, in der ein Diener in einem Zug den Dreck anderer Menschen entfernen musste, ohne dafür kaum mehr als ein mickriges Trinkgeld zu erhalten. Und in eine Zeit, in der ein Homosexueller für Sexualkontakte mit anderen Männern ins Gefängnis musste.

von: Doron Rabinovici
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von: Tom Kristensen