Rezension Rezension (4/5*) zu Der Platz im Leben: Roman von Anna Quindlen.

MRO1975

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11. August 2018
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Wie willst du leben?

Nora und Charlie Nolan führen ein scheinbar perfektes Leben. Sie wohnen in einem schicken Stadthaus, gelegen in einer Sackgasse in der Upper West Side von Manhatten. Charlie ist als Investmentbanker relativ erfolgreich. Ihre Kinder, die Zwillinge Rachel und Oliver besuchen angesehen Colleges. Und auch Nora hat einen glitzernden Job. Sie leitet ein Museum, in dem seltene und sehr teure Schmuckstücke – zumeist aus privatem Besitz – der Öffentlichkeit gezeigt und günstige Replikate im Museumsshop verkauft werden.

Zu Anfang scheint die Atmosphäre harmonisch. Die in der Sackgasse wohnenden Familien kennen sich und bilden eine Art eingeschworene Gemeinschaft. Man trifft sich auf der Straße und plauscht; man läd sich gegenseitig ein − sei es zum Neujahrsempfang oder zum Straßenfest. Gegenüber Fremden, einschließlich Mietern, sind die Hauseigentümer dagegen reserviert. Selbst Charlie, der mit Nora und den Kindern schon seit Jahren in der Straße wohnt, fühlt sich erst richtig dazugehörig seit er einen der wenigen Freiluftparkplätze auf der einzigen Brachfläche in der Straße ergattern konnte.

Der Parkplatz auf der Brachfläche ist also zunächst Grund zur Freude. Er ist aber auch Stein des Anstoßes. Denn Parkplätze sind in Manhatten knapp. Das bekommt insbesondere der Handwerker Ricky zu spüren, der für die Einwohner der Sackgasse regelmäßig, prompt und günstig Reparaturen erledigt. Er findet für seinen Transporter keinen Platz zum Parken und stellt ihn deshalb öfters vor der Brachfläche ab, wodurch die Parkplatzinhaber bei Verlassen des Parkplatzes gezwungen werden, um den Transporter herum zu fahren. Das empfindet insbesondere Jack Fisk, einer der Nachbarn, zunehmend als Affront. Als er sich eines Tages beim Herumfahren um den Transporter den Seitenspiegel abfährt, eskaliert die Situation. Fisk gerät derart in Wut, dass er sich einen Golfschläger aus dem Kofferraum holt und auf den Transporter eindrischt. Ricky, der aufgrund des Lärms herbeieilt, gerät unter die Keule. Ob Fisk absichtlich auf ihn einschlägt oder nicht, das bleibt letztlich streitig. Am Ende hat Ricky ein mehrfach gebrochenes Bein, muss operiert werden und einige Wochen im Krankenhaus verbringen.

Der Vorfall spaltet die Bewohner der Straße und auch die Familie Nolan. Charlie, der als einziger Zeuge den Vorfall beobachtet hat, bestätigt Fisks Version, dass es sich um einen unbeabsichtigten Unglücksfall gehandelt habe. Nora und die Kinder glauben dagegen Rickys Version, wonach Fisk absichtlich mit dem Golfschläger auf ihn eingeschlagen hat. Nora besucht Ricky im Krankenhaus, muss aber erleben, dass ihre mitfühlende Geste von Rickys Ehefrau als Eindringen in ihre Privatsphäre empfunden und keineswegs goutiert wird. Auch Sherry, Fisks Ehefrau, kritisiert Nora wegen des Krankenbesuchs, da dies die laufenden Schmerzensgeldverhandlungen zu Lasten ihres Mannes beeinflussen könnte.

Der aufgebrochene Konflikt gibt allen viel zu denken, vor allem Nora. Sie erkennt, dass in ihrem Leben vieles bloß Fassade ist. Genau wie die Stadt Manhatten, ist die Fassade an der Oberfläche glatt und sauber. Aber wenn man darunter sieht, kommen die maroden Kabelschächte zum Vorschein. Nora analysiert ihre Ehe, ihren Job, und sie trifft Entscheidungen.

Abgesehen von der Frage, ob und wo Nora ihren Platz im Leben finden wird, thematisiert der Roman für mich auch die Frage, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen. Unterschiedliche Vermögensverhältnisse haben offenbar zu einer Art sozialen Kastenwesen geführt. Jede soziale Schicht lebt in ihrer eigenen Welt und man begegnet sich nur noch auf vorgezeichnetem, bspw. beruflichem Terrain. Ein Überschreiten der Grenzen kann, selbst wenn es gut gemeint ist, schnell als Affront gewertet werden. Ob und gegebenenfalls wie man dem entgegenwirken soll, darauf gibt der Roman keine Antwort. Aber es lohnt sich, darüber nachzudenken.

Von mir bekommt der Roman vier Sterne und eine Leseempfehlung. Der Stil ist locker und leicht, sodass der Roman mit Genuss gelesen werden kann. Außerdem mag ich Bücher, die mich zum Nachdenken bringen.