Rezension Rezension (4/5*) zu Der Hütejunge: Eine Kindheit im Krieg von Ulrike Blatter.

parden

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13. April 2014
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49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Die Chronik einer Kindheit, eines Dorfes, eines Krieges...


Ein kleines Eifeldorf. Der Mittelpunkt der Welt. Hier wird 1934 ein Junge geboren, der keinen Namen hat. Das macht aber nichts: Er muss nur schnell erwachsen werden, bevor der Krieg vorbei ist. Denn Helden brauchen keine Namen.

1934! Diese Zahl elektrisierte mich gleich, denn das Geburtsjahr des Jungen in diesem Roman ist auch das Geburtsjahr meines Vaters. Dass Kriegserlebnisse nicht spurlos an Menschen vorübergehen, auch und gerade nicht an Kindern, zeigte sich ganz gewiss auch an meinem Vater. Immer wieder erzählte er Episoden aus seiner Kindheit, die den Zuhörenden staunen oder fassungslos werden ließen. Er hat überlebt, seine Familie ebenso, aber den Preis hat er gezahlt - und die Generation nach ihm mit Sicherheit auch.

Daher traf die Autorin bei mir einen Nerv, als sie in der Leserunde schrieb: "Er wächst in einem totalitären Staat auf, wo sich Angst und Misstrauen ins Leben fressen. Ein Kind, dessen Lebenstraum es ist, ein Held zu werden, wird vom Krieg eingeholt. Dieser Roman beruht auf Zeitzeugeninterviews und sucht Worte für das, worüber viele Kriegskinder nie sprechen konnten. Diese Erfahrungen prägen auch die nächsten Generationen – was bedeutet das für unsere Gesellschaft heute? "

In ihrem Roman entblättert Ulrike Blatter aus Sicht des bis zum letzten Satz namenslosen Jungen die Chronik der Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg in einem kleinen Eifeldorf. Dabei hangelt sie sich eng an den tatsächlichen Geschehnissen in Deutschland zu dieser Zeit im Allgemeinen und in dem kleinen Eifeldorf Sadtkyll im Besonderen entlang und verknüpft Erinnerungen ihres eigenen Vaters mit Erzählungen von anderen Interviewpartnern, die ihr von ihrer eigenen Kindheit im Krieg berichteten.

In kurzen Kapiteln wird hier mosaikhaft das Leben des Jungen und seiner Familie skizziert, stets im Gefüge der Dorfgemeinschaft mit Lehrer und Dechant als obersten Respektperonen. Die unvoreingenommene und naive Sicht des Jungen verändert sich im Laufe der Geschehnisse und seines Älterwerdens. Die vor allem anfangs sehr kindliche und dadurch eher distanzierte Sicht auf die Dinge nimmt manchen Szenen den Schrecken, der erwachsene Leser verspürt ihn dennoch. Nicht immer hält die Autorin allerdings die kindliche Perspektive aufrecht - stellenweise weicht sie wohl bewusst davon ab, um z.B. zu verdeutlichen, vor welchen Zerreißproben die Familie des Jungen stand. Diese Zusammenhänge hätter er in seinem jungen Alter nicht erfassen können.

Der Schreibstil ist flüssig, und die Aneinanderreihung der kurzen Kapitel mit ihren Zeitsprüngen bietet einen guten Einblick in das Heranwachsen des Jungen, verleitete mich zwischendurch allerdings auch immer wieder, das Buch beiseite zu legen, bevor ich ins nächste Kapitel eintauchte. Dass der Junge keinen Namen hat, fand ich zunächst befremdlich. Dann aber bekam die Erzählung gerade dadurch etwas Allgemeingültiges, und es stimmt ja auch: das war die Realität vieler Kinder zu dieser Zeit. Die Verändung des Geschehens von anfänglicher Kriegsbegeisterung über Ernüchterung und Ungeduld bis hin zur Resignation und Verzweiflung kommt hier gut rüber.

Dem Roman ist nicht nur anzumerken, dass die Autorin einen engen persönlichen Bezug zu der Erzählung hat, sondern auch dass sie hierfür eine akribische und umfassende Recherchearbeit geleistet hat, die sich in zahllosen erwähnten Details niederschlägt. Im Mittelteil des Buches befinden sich seitenweise Fotos, die den Text hervorragend ergänzen und das Erzählte anschaulich belegen. Und auch die Chronik und das Glossar im Anhang stellen eine interessante Ergänzung des Textes dar. Das verknüpft das Geschehen in dem abgeschiedenen Dorf und das Erleben des Kindes mit dem Weltgeschehen. In meinen Augen gelungen...

Mit dem Lesen dieses Buches kamen bei mir tatsächlich wieder Erinnerungen an die Erinnerungen meines Vaters hoch. Ich finde es wichtig, ihnen auch heute noch einen Raum zu geben, denn je mehr Menschen nachvollziehen können, was Krieg mit einem Menschen, Familien, einer ganzen Generation und denen danach anstellt, desto eher besteht vielleicht die Möglichkeit, sich in kommenden Krisenzeiten dagegen zur Wehr zu setzen. Wer sagt, dass Träume mit der Kindheit enden müssen?

Ein lesenswerter, ein empfehlenswerter Roman um einen Jungen, dem die Kindheit genommen wurde...


© Parden

 
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