Rezension Rezension (4/5*) zu Der Freund: Roman von Sigrid Nunez.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Freund: Roman von Sigrid Nunez
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Memoir an einen besten Freund

Die Ich-Erzählerin hat ihren besten Freund verloren. Er hat Suizid begangen, keinen Abschiedsbrief, aber dafür viele offene Fragen hinterlassen. Die Erzählerin ist in tiefer Trauer, ihr Blick verschwommen vom vielen Weinen.

Kennengelernt haben sie sich einst an der Universität. Der Freund war noch sehr am Anfang seiner Professorentätigkeit, die Erzählerin am Ende ihres Studiums. Über Jahrzehnte hielt diese Freundschaft, die abgesehen von einem einzigen Mal keine sexuellen Kontakte zuließ, sondern rein platonischer Natur war.
„Es gab eine Zeit - eine lange Zeit sogar, in der du und ich uns fast täglich gesehen haben. Doch während der letzten paar Jahre hätten wir auch in unterschiedlichen Ländern leben können, statt nur in verschiedenen Stadtteilen. Wir hielten überwiegend und regelmäßig Kontakt via E-Mail.“

Der Verlust des Freundes reißt ein tiefes Loch: „Doch ich muss feststellen, dass du mir umso mehr entgleitest, umso mehr zu einem Hologramm wirst, je mehr die Leute über dich sagen,…“

Beide waren passionierte Schriftsteller, die Erzählerin lässt viele Begegnungen, Gespräche, Meinungsaustausche und fachliche Kolloquien Revue passieren. Beide unterrichteten an der Universität. Es einte sie die Liebe zur Literatur, zum Schreiben. Für Studierende, die ihre Creative-Writing-Kurse nur zum Zeitvertreib besuchten, die wenig belesen waren und denen die wahre Berufung zum Schreiben fehlte, hatten sie nur Spott und Verachtung übrig.

Die Erzählerin lässt ihre Gedanken mäandern: Der Verstorbene hatte stets ein reichhaltiges Liebesleben und insgesamt drei Ehefrauen, zu denen die Erzählerin sehr unterschiedliche Verhältnisse hatte. Die Freundschaft überdauerte alle Ehen.
Nach der Trauerfeier bittet Ehefrau drei zum Gespräch: „Und du weißt, dass er sich einen Hund zugelegt hat?“ Für diesen Hund, eine riesige deutsche Dogge, wird nun eine Bleibe gesucht. Angeblich hat der Ehemann seine Freundin selbst ins Gespräch gebracht, weil sie viel Zuhause, tierlieb und alleinstehend sei. Für die Erzählerin ist dieser Vorschlag eigentlich nicht annehmbar, lebt sie doch in einer kleinen Stadtwohnung, in der zudem Hunde verboten sind… Dennoch nimmt sie das stark trauernde Tier in ihre Obhut.

„Einem Hund kann man den Tod nicht erklären. Er versteht nicht, dass Daddy nie mehr nach Hause kommen wird. Er hat Tag und Nacht neben der Tür gewartet. Eine Weile hat er nichts mehr gefressen…“
Die Erzählerin fühlt schnell eine innere Verbundenheit zu dem Tier. („Deinen Hund zu haben ist, als wäre ein Teil von dir hier.“) Als einziger im Buch hat der Hund einen Namen: Apollo ist ein sanftmütiger Riese, er würdigt sie zunächst keines Blickes, wirkt apathisch. Die Erzählerin versucht, dem Hund zu helfen, sie nähert sich ihm allmählich an, drängt sich aber nicht auf. Beide machen lange gemeinsame Spaziergänge, respektieren einander. Diese beginnende Zuneigung zweier trauernder Seelen ist anrührend zu lesen, die Zeilen strahlen viel Emotionalität aus. Beide geben sich Wärme und Kraft, sie kommunizieren wortlos und scheinen sich zunehmend zu verstehen und ihre Bedürfnisse zu erkunden.

Über dieser beginnenden Freundschaft schwelt das Damoklesschwert der Hausverwaltung. Ihr ist zu Ohren gekommen, dass verbotenerweise ein Hund im Mehrfamilienhaus eingezogen ist und aus „vorübergehend“ anscheinend „dauerhaft“ wurde. Es ergehen mehrere Mahnungen, die Kündigung droht.

Die Erzählerin springt in ihren Erinnerungen. Der Leser lernt viel über das Wesen der Tiere im Allgemeinen („Sie begehen keinen Selbstmord. Sie weinen nicht. Aber sie können zerbrechen, und sie tun es. Ihre Herzen können brechen, und sie tun es. Sie können den Verstand verlieren, und sie tun es.“) und der Hunde im Besonderen. Da das Leben der Erzählerin geprägt ist vom Schreiben und Lehren, bekommt man auch viel vom Literaturbetrieb, den Schreibkursen an der Universität oder auch von Schreibblockaden vermittelt. Es gibt wunderbare Textzitate berühmter Schriftsteller zu entdecken, die teilweise auch kontrovers ausgelegt werden.

Apollo leidet offensichtlich an einer Depression. Die Erzählerin bemüht das Internet, Fachliteratur und einen Therapeuten, entwickelt aber ihr eigenes Konzept. Sie kommt zu dem Schluss, dass sie den Hund dazu bringen muss, den Freund zu vergessen und sich in sie selbst zu verlieben. Es ist rührend, wie sie versucht, das Tier mit verschiedenen Musikrichtungen zu erreichen. Man kann mitempfinden, wie die beiden sich gegenseitig im Trauerprozess helfen und sich emotional unterstützen. Die Auseinandersetzung mit der Trauer des Hundes hilft der Erzählerin, ihrer eigenen Trauer zu begegnen.

„Trauer kann man nicht zur Eile antreiben“. Das muss die Erzählerin erfahren. Man kann sich aber professionelle Hilfe holen. Im Zuge der Trauerarbeit kann man auch eine Schreibblockade überwinden. Ich habe fast den Eindruck gewonnen, dass das vorliegende Buch das Ergebnis dessen sein könnte.

Die leuchtenden Farben auf dem Cover sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um einen eher nachdenklichen, intensiven Roman handelt, der einen Trauerprozess von Mensch und Hund beschreibt. Er ist sehr intelligent geschrieben, man möchte viele Textstellen markieren respektive herausschreiben. Man kann sich hervorragend in die Figuren einfühlen. Eine sehr realistische Lektüre, die man jedoch auch am Ende nicht beglückt und erleichtert zuklappt. Aber eine Lektüre, die bereichert, die neue Aspekte eröffnet und vielleicht auch Trauernden eine Stütze sein kann. Denn Trauern und Loslassen gehören zum Leben unabdingbar dazu.

„Die Toten halten sich im Konditional auf, in der Zeitform des Nichtwirklichen.“ Aber sie sind immer da. Sie begleiten uns weiterhin durch unser Leben.

Dieser Roman wurde in den USA zum Bestseller und hat den National Book Award gewonnen.


von: Willa Cather
von: Enright, Anne
von: Boltanski, Christophe
 

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