Rezension (4/5*) zu Der erste Horizont meines Lebens: Roman von Liliana Corobca

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Das Dorf der Kinder...

Die zwölfjährige Cristina kümmert sich um alles: Sie kocht, putzt, füttert die Hühner und Schweine und ist Elternersatz für ihre jüngeren Brüder. Die Geschwister leben in einem Dorf in Moldawien, während die Mutter in Italien fremde Kinder hüten muss und der Vater in Sibirien arbeitet. Dabei ist Cristina eigentlich in Cousin Lucian verliebt, träumt vom ersten Kuss und einer besseren Zukunft. "Das Warten ist wie ein kleines Tier, weder ein Haustier noch ein wildes Tier, mal brav und schläfrig, mal böse und entfesselt." Eine einprägsame Geschichte in starken Bildern, geschildert aus der Sicht von Kindern, die am Rande von Mitteleuropa alleine zurückbleiben. (Klappentext)

Zugegeben, dies ist nicht der erste Roman, den ich zum Thema einsam aufwachsender Kinder gelesen habe, deren Eltern in anderen Ländern arbeiten, um die Familie finanziell über Wasser halten zu können. "Wenn ich wiederkomme" von Marco Balzano beispielsweise befasst sich ebenfalls mit den psychischen wie sozialen Folgen dieser so besonderen Arbeits- und Lebenssituation.

In dem Roman von Liliana Corobca wird ausschließlich aus der Ich-Perspektive der 12jährigen Cristina erzählt, die sich in einem abseits gelgenen Dorf in Moldawien alleine um den Hof und die beiden jüngeren Brüder kümmern muss und nebenher zur Schule geht. Die Kindheit Cristinas ist längst vorbei, zum Spielen kommt sie nicht mehr, und auch bei den seltenen Treffen mit anderen Mädchen dreht sich alles um das Thema Hausarbeit und Erziehung.

Das Dorf wird auch "das Dorf der Kinder" genannt, weil viele in einer ähnlichen Lage sind wie Cristina und ihre Brüder. Die Eltern arbeiten alle in anderen Ländern, kommen ein oder zweimal pro Jahr nach Hause, um nach dem Rechten zu sehen, telefonieren ansonsten einmal pro Woche mit den Kindern, um sich über den Stand der Dinge zu informieren, und schicken ansonsten regelmäßig Geld. Die Solidarität im Dorf ist zudem nicht sonderlich hoch, jeder schaut nur bei sich und auf seine Vorteile, die anderen müssen sehen wie sie klar kommen. Selten bekommen Cristina und ihre Geschwister einmal ein paar Pfannkuchen oder ein Gläschen Marmelade geschenkt, meistens stiehlt man ihnen im Gegenteil noch Sachen vom Hof. Und niemand in Sicht, der sie utnerstützen oder ihnen helfen würde.

In lose aneinandergereihten Szenen erfahren die Lesenden von der Mühsal Cristinas, den alltäglichen Problemen, den Gefühlen, denen kein Raum gegeben werden darf - denn was bringen schon Tränen? - den oftmals gewaltvollen Erfahrungen der Dorfkinder bei prügelnden und meist besoffenen Vätern, wenn diese denn nicht in einem anderen Land leben, der schwerwiegenden Verantwortung für die kleineren Brüder, dem Wunsch, diese vor anderen Kindern beschützen zu können, dem Traum von einem besseren Leben, dem Wunsch, selbst noch einmal Kind sein zu dürfen, das sich Trost bei seiner Mutter suchen darf.

Und dennoch lässt sich Cristina das Träumen nicht nehmen, sie geht behutsam und rücksichtsvoll mit den Tieren um und versucht diese Haltung auch ihren Brüdern zu vermitteln, sie hegt die Hoffnung auf ein besseres Leben in einer liebevollen Ehe, sucht ihre Auszeiten und achtet die Schätze der Natur. Auch in solch einer vereitelten Kindheit gibt es den Wunsch nach einer positiven Zukunft, und das ist es, was Cristina aufrecht hält. So ist es nicht verwunderlich, dass hier im Roman zuletzt auch der magische Realismus Einzug hält: die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verwischen, werden zu einer natürlich empfundenen Wirklichkeit verschmolzen.

Das Buch vermittelt einen bildhaften Eindruck von den Lebensumständen Cristinas und all der Kinder, die vereinsamt und ohne Unterstützung im Alltag viel zu früh viel zu viel Verantwortung übernehmen müssen, weil ihre Eltern in anderen Ländern arbeiten um Geld für ihre Familie zu verdienen. Die Geschichte einer gestohlenen Kindheit in Moldawien - bedrückend und eindrucksvoll...


© Parden

 
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Reaktionen: RuLeka

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich habe das Buch auch vor Jahren gelesen. Schön, dass es durch Deine Rezension Aufmerksamkeit bekommt. Es verdient viele Leser.