Rezension (4/5*) zu Der Distelfink von Donna Tartt

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Buchinformationen und Rezensionen zu Der Distelfink von Donna Tartt
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"Leben ist Katastrophe", dieses Buch allerdings nicht!

„Leben ist Katastrophe“ zu diesem Schluss kommt Theo Decker am Ende dieses Romans und zu Beginn: „Alles hätte sich zum Besseren gewendet, wenn sie [Theos Mutter] am Leben geblieben wäre.“ Keine Angst, das sind keine Spoiler, denn gleich im ersten Kapitel erfahren wir, dass der erwachsene Theo durchaus in der Klemme steckt, um es nett auszudrücken aber nicht mehr zu verraten.

Dieser Roman entwickelt sich in Richtungen, die man zu Beginn der Geschichte nie geahnt hätte, durch Überschreiben mit mannigfaltigen, neuen Informationen nach dem ersten Kapitel auch gar nicht mehr im Blick hatte, und schafft es doch (fast) immer die Leserin mitzuziehen in diese Richtungen der wilden Wendungen und Kapriolen. So verliert Theo, in seinem Beisein, die eigene, alleinerziehende Mutter bei einem Bombenanschlag auf ein großes New Yorker Kunstmuseum, ur nachdem sie ihm ihr Lieblingsbild aus Kindheitstagen gezeigt hat. Aus Schutt und Asche nimmt er in innerer wie äußerer Verwirrung das Bild „Der Distelfink“ von Carel Fabritius in 1654, dem Jahr seines Todes gemalt, mit nachhause und scheint seit diesem schicksalhaften Tag mit ihm verbunden, versucht es loszuwerden und kann es doch nicht hinter sich lassen, da es so stark mit der Mutter verbunden scheint.

Über die ersten 560 Seiten hinweg begleiten wir den 13jährigen Halbwaisen Theo nun zwei Jahre lang auf seinem Weg von der Upperclass-Pflegefamilie, über den Las Vegas-Spieler-Alptraum, fast White Trash, und durch verschiedenste Drogenräusche, aber auch Freundschaften und Ankommen im scheinbar sicheren Nest. Diese ersten 560 Seiten zeigen die Entwicklung Theos meisterhaft zu einem geschundenen 15-Jährigen auf. Traumatisierungen werden subtil und gleichzeitig unglaublich detailliert gezeigt. Aber die Odyssee Theos endet nicht an dieser Stelle. Das Buch macht einen Sprung von acht Jahren und zeigt die Welt von Kunst, Betrug und moralischem Verfall im nun jungen Erwachsenen Theo. Ab hier hat mich der ausschweifende Plot ein wenig zu stark strapaziert. Der Kapriolen und Wendungen des Schicksals war es mir dann doch ein Tüpfelchen zu viel. Die überbordende Sprache der Autorin wird manchmal ein kleines bisschen zu klischiert. Aber weiterhin schafft sie es, wie auch im ersten Teil des Buches die vorgestellten Milieus meisterhaft zu erfassen und darzustellen. Meines Erachtens, neben der grandiosen Charakterentwicklung Theos und der dreidimensionalen Ausleuchtung der Nebenfiguren, die größte Stärke dieses Romans. Das Ende wirkte mir dann - nach dem bis dahin gelesenen Epos - fast ein wenig zu fad und gefühlt plätschert der Roman zum Ende hin ein wenig in philosophisch-moralische Betrachtungen aus.

Durchhaltevermögen bei diesem knapp über 1000 Seiten dicken Roman ist wirklich vonnöten. Für mich war er insgesamt einen Ticken zu lang und gleichzeitig aber auch nie wirklich langweilig. Die Autorin hätte einfach aus meiner Sicht etwas mehr Erzählökonomie walten lassen und die ein oder andere schicksalhafte, fast thrillerartige Wendung im zweiten Teil weglassen können. Das ist aber alles Meckern auf hohem Niveau, da der Roman im Gesamten definitiv überzeugen kann.

Die Lesung von Matthias Koeberlin ist wirklich sehr angenehm, auch wenn er es nicht besonders gut schafft, weiblichen Charakteren gewisse Eigenarten mitzugeben. So wird z.B. im Text explizit die rauchige Stimme einer Protagonistin beschrieben und dann klingt sie doch wie jede andere weibliche Figur in diesem Hörbuch auch. Gerade die männlichen Figuren gelingen Koeberlin hingegen sehr gut, sodass ich doch seine Arbeit insgesamt als gelungen bezeichnen würde. [Einschränkende Anmerkung: Dies ist mein allererstes Hörbuch, sodass ich keine Vergleichsmöglichkeiten habe.]

Für das Hörbuch: 3,5/5 Sterne = „überdurchschnittlich gut“, aufgerundet auf 4 Sterne „sehr gut“ bei sehr guter Buchvorlage.

von: Berna González Harbour
von: Annalena McAfee
von: Julian Barnes
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich bewundere Leute, die einen derart langen und komplizierten Text in Hörbuchform genießen können; mir ist das leider nicht gegeben.
Ich hatte das Buch damals bei Erscheinen in einer Leserunde als Verlagsexemplar und weiß noch, wie völlig "geflasht" ich von einer bestimmten Wendung war - wer das Buch kennt, weiß, was ich meine. Ich war so aus der Fassung, dass ich das Buch weglegen musste und erst nach mehreren Stunden weiterlesen konnte. Die Leserin so durcheinanderzubringen, das ist auch hohe Erzählkunst.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Ich bewundere Leute, die einen derart langen und komplizierten Text in Hörbuchform genießen können; mir ist das leider nicht gegeben.
Tatsächlich empfand ich es als sehr fordernd und ich habe wirklich nichts anderes nebenher gemacht beim Hören. Mein Medium wird es nicht werden, da ich häufig bei bestimmten Formulierungen innehalten wollte, wie ich es beim Lesen eines analogen Buches getan hätte, dann aber die Lesung schon weiterlief und alles vorbei war, bis ich den "Pause"-Knopf gefunden und betätigt hatte... Bei sehr einfach geschriebenen, plotgetriebenen Büchern kann ich mir dies noch etwas besser vorstellen. Meins ist es trotzdem nicht.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Aha, "nur" 3,5 Sterne. Hoffentlich änderst du jetzt nicht dein liebenswertes Profilbild :).

Aber ich kann deiner Meinung insgesamt folgen, fand aber vor allem die Episode mit Theo und Boris in Las Vegas so markerschütternd gut, dass ich wohl trotz der Längen im letzten Viertel nichts abgezogen hätte.
Nein, auf keinen Fall, das Profilbild bleibt! :)
Die "nur" 3,5 Sterne kommen tatsächlich hauptsächlich durch das Hörbuch zustande.

Ich wusste nicht (oder hatte es überlesen, falls du es schon mal erwähntest), dass du das Buch schon gelesen hast und hätte es dir jetzt gleich dringend empfohlen, da ich beim Lesen - vor allem der von dir genannten Passage, aber auch generell im ersten Teil - ständig an dich und dein Faible für das Genre denken musste. Der erste Teil hat mich auch wirklich umgehauen, keine Frage!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich höre Hörbücher nur nebenbei, im besten Fall beim Walken. Sie dürfen aber nicht zu kompliziert sein, nicht zu viele Figuren haben. Beste Erfahrungen habe ich mit epischen Klassikern gemacht. Schuld und Sühne, Oblomov, Anna K., vom Winde verweht - herrlich!
Wobei es sehr auf den Vorleser ankommt. Bei den Klassikern war noch kein Flop dabei.
Sehr dichte, literarische Texte erfüllen meinen Anspruch nicht. Höchstens als Wiederholung und da sind sie mir zu teuer;)

Gerade höre ich


Das eignet sich wunderbar, weil in jedem Abschnitt nur eine Figur im Mittelpunkt steht. Außerdem wird es gut gelesen. Da kocht es sich nebenbei fast von selbst (nur aufpassen, dass nix anbrennt- man hört ja nichts :p )
 
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