Rezension Rezension (4/5*) zu Das Wunder: Roman von Emma Donoghue.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Wunder oder Betrug?

In ihren Werken greift Emma Donoghue vielfältige diverse Themen auf, mit ebenso vielfältigen diversen Charakteren. Zum Teil sind ihre Bücher in der Gegenwart angesiedelt, zum Teil sind es auch historische Romane – so oder so hat sie jedoch ein Gespür für bemerkenswerte weibliche Charaktere, die sich nicht blindlings dem Frauenbild ihrer Zeit beugen.

"Das Wunder" spielt in Irland, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Krankenschwester Lib Wright ist eine sogenannte 'Nightingale': eine Krankenschwester, die von der berühmten Florence Nightingale (gemeinhin betrachtet als Begründerin der modernen Krankenpflege) persönlich ausgebildet wurde.

Unter Leitung von 'Ms N.' hat Lib im Krimkrieg Dienst getan. Unter schwersten Bedingungen betreute sie im türkischen Scutari britische Soldaten, obwohl es vorne und hinten an Materialien und hygienischen Bedingungen fehlte. Diese Zeit hat Lib ohne Zweifel stärker gemacht, und sie ist sehr stolz darauf, eine Nightingals zu sein – manchmal sogar hochmütig.

Als sie beauftragt wird, für zwei Wochen ein kleines Mädchen zu beaufsichtigen, das angeblich seit vier Monaten keine Nahrung zu sich genommen hat, reagiert sie zunächst mit purer Verachtung für die Menschen im Umfeld des Kindes. Im Grunde ist sie ein sehr widersprüchlicher Charakter: für ihre Zeit ist sie eine moderne Frau, die an die Wissenschaft und die Eignung von Frauen für wissenschaftliche Berufe glaubt, andererseits hängt sie bestürzenden Vorurteilen nach.

Was manchen deutschen Lesern möglicherweise nicht bewusst ist: die Iren hatten im Laufe der Jahrhunderte immer wieder mit anti-irischem Rassismus zu kämpfen, und so standen sie in den Augen vieler Menschen auch im 19. Jahrhundert noch auf dem Status von Untermenschen, die durch ihr 'unreines Blut' und ihre 'grobschlächtige Physiognomie' dem Affen ähnlich seien.

So aufgeklärt Lib auch ist, so sehr schweift ihr Denken oft ab ins Gefilde unhaltbarer Vorurteile. Ich konnte ihren Zorn gegen bestimmte Bewohner des Dorfes meist sogar nachvollziehen, wie zum Beispiel bei den Eltern des Mädchens oder dem Dorfarzt – aber nicht ihre pauschalen Verurteilungen der irischen Natur.

Lib ist sich keineswegs bewusst, dass ihre Vorurteile ihr kritisches, analytisches Denken mindestens ebenso sehr beeinträchtigen, wie der Wunderglaube der Dorfbewohner sie blind macht für die mögliche Not eines kleinen Mädchens.

Daher war Lib mir nicht immer sympathisch, aber sie hat dennoch viele Eigenschaften, die ich bewundere, und sie macht im Laufe des Buches eine große persönliche Entwicklung durch. Wider eigenes Erwarten schließt sie die "kleine Betrügerin" ins Herz und freundet sich mit einem irischen Journalisten an, der ebenso wenig an ein Wunder glaubt wie sie und eine ähnlich scharfe Intelligenz aufweist. Gerade weil sie ein so widersprüchlicher Charakter ist, war sie für mich auch so spannend. Je mehr sie sich öffnet für andere Ansichten und andere Lebensarten, desto mehr erfährt man auch darüber, was Lib ursprünglich dazu bewogen hat, sich den Nightingales anzuschließen, und dadurch kann man sie auch immer besser verstehen.

Auch Anna, das kleine 'Fastenmädchen', ist in meinen Augen ein so interessanter wie zwiespältiger Charakter: zunächst wirkt sie, als sei sie von ihrer Mutter geradezu abgerichtet worden auf pittoreske Frömmigkeit. Den ganzen Tag betet sie und singt christliche Lieder, während die Besucher sich die Klinke in die Hand geben, um sie um ihren Segen zu bitten und eine Spende in die Sammelbüchse für die Armen zu werfen. Ich brauchte einige Kapitel, um ein Gefühl für Annas eigentliche Persönlichkeit zu bekommen, so wie auch Lib erst ratlos ist, was sie von dem Mädchen halten soll.

Spannend war das Buch für mich vor allem, weil ich mir nie absolut sicher war, ob sich das Wunder als echtes Wunder entpuppen würde, als ausgeklügelter Trick der Eltern – oder etwas ganz Anderes. Die Auflösung ist in meinen Augen glaubhaft, schlüssig und weitaus komplexer als erwartet, doch was sich ganz am Schluss als Folge dieser Auflösung ergibt, konnte mich nicht 100%-ig überzeugen.

Dennoch fand ich das Buch sehr lesenswert: die Geschichte ist zutiefst originell, wirft ein interessantes Licht auf die Lebensumstände der Iren im 19. Jahrhundert und lädt den Leser ein, mitzudenken und die Geschehnisse stets zu hinterfragen.

Den Schreibstil fand ich wunderbar. er liest sich flüssig und unterhaltsam, mit einer guten Balance zwischen 'authentisch für die Zeit' und 'gut lesbar für den modernen Leser'. Das ist bei historischen Romanen für mich immer eine Gratwanderung, die nicht jeder Autor beherrscht!

Fazit:
Irland, Mitte des 19. Jahrhundert. Die 11-jährige Anna nimmt angeblich seit vier Monaten nur Wasser zu sich – ein Wunder, oder ein billiger Trick ihrer Eltern? Krankenschwester Lib Wright, ausgebildet von der berühmten Florence Nightingale, wird damit beauftragt, der Sache auf den Grund zu gehen Gemeinsam mit einer anderen Schwester soll sie das Mädchen zwei Wochen lang Tag und Nacht bewachen, um sicherzustellen, dass sie nicht doch heimlich isst.

Lib ist überzeugt, den Schwindel binnen zwei Tagen aufdecken zu können, aber dem ist nicht so... Und je mehr sie das Mädchen ins Herz schließt, desto mehr zweifelt sie daran, was sie glauben soll.

Die Autorin bringt den Leser immer wieder ins Zweifeln. 'Eigentlich kann es doch kein Wunder sein! – aber Anna scheint tatsächlich nichts zu essen... Nein, es muss ein Trick dahinter stecken!' Das sorgt für eine ständige Grundspannung, und dazu kommt die interessante Entwicklung der Charaktere, die sich nach und nach als komplexer und zwiespältiger entpuppen, als man anfangs vermuten würde.

Ganz nebenbei bekommt man einen Einblick in den gegen Iren gerichteten Rassismus der Zeit, der zumindest in meiner Schule im Geschichtsunterricht vollkommen unter den Tisch fiel.