Rezension Rezension (4/5*) zu Das Verschwinden der Erde: Roman von Julia Phillips.

RuLeka

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30. Januar 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Das Verschwinden der Erde: Roman von Julia Phillips
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Vielstimmiges Portrait einer Gesellschaft

Die amerikanische Autorin Julia Phillips siedelt ihren Debutroman in Kamtschatka an, jener Halbinsel im äußersten Osten Russlands. Eine landschaftlich faszinierende Gegend mit zahlreichen noch aktiven Vulkanen, mit heißen Geysiren, den endlosen Weiten der Tundra und den dichten Birkenwäldern. Aber erst seit 1990 können Touristen die Halbinsel bereisen. Über fünfzig Jahre lang war sie militärisches Sperrgebiet der Sowjets.Die Gegend ist auch heute noch dünn besiedelt. Der größte Teil der Bevölkerung sind Russen; nur etwa 2,5% stammen von den Ureinwohnern ab ( Ewenen, Korjaken, Itelmenen ).
Die New Yorkerin Julia Phillips lebte vor Jahren einige Zeit in Kamtschatka, um dort über die Folgen des zunehmenden Tourismus zu forschen. Der Gegensatz zwischen der atemberaubenden Schönheit der Natur und den schlechten Lebensbedingungen der Bewohner hat sie beschäftigt. Ihr Roman war für den National Book Award nominiert und wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Doch worum geht es ?
An einem Sommertag im August sind die beiden Schwestern, die 8jährige Sofija und die 11jährige Aljona, am Strand unterwegs. Auf dem Rückweg bittet sie ein fremder Mann um Hilfe; die beiden steigen in sein Auto ein und bleiben ab diesem Zeitpunkt verschwunden. Die Suche nach ihnen verläuft erfolglos, auch ihre Leichen sind nirgends aufgetaucht. Es gibt allerdings keine Möglichkeit, unbemerkt die Halbinsel zu verlassen. Einzig mit dem Schiff oder dem Flugzeug ist es möglich; über den Landweg, durch die Tundra und über die Berge, führt keine Straße.
Wer nun einen konventionellen Kriminalroman erwartet, wird enttäuscht. Die Entführung dient lediglich als Ausgangspunkt für eine Reihe von Geschichten.
In insgesamt 13 Kapiteln, gegliedert nach den Monaten ab dem Zeitpunkt des Verschwindens, steht eine weibliche Figur im Zentrum, die in irgendeiner Form, oftmals nur ganz lose, mit den beiden entführten Mädchen in Verbindung steht.
Da ist z.B. Oksana. Sie ist Forscherin am Institut für Vulkanologie und sie war die einzige Zeugin, die die beiden Schwestern und einen Mann mit Auto zuletzt gesehen hat. Allerdings wird ihren vagen Aussagen wenig Gehör geschenkt.
Oder Walentina. Sie ist die Sekretärin an der Schule, auf die die beiden Mädchen gegangen sind und weiß deshalb einiges über den familiären Hintergrund. Sie ist eine, die den alten Strukturen nachtrauert. „ So etwas wäre zu Sowjetzeiten niemals passiert, ...Ihr... habt keine Vorstellung, wie sicher es damals war. Keine Ausländer. Keine Fremden. Die Halbinsel zu öffnen, war der größte Fehler, den die Behörden machen konnten. ...Jetzt wimmelt es hier nur so von Touristen und Migranten. Ureinwohnern. Alles Kriminelle.“
Oder Ksjuscha , eine Ewenin, die zum Studieren in die Hauptstadt kam. Ihre Eltern leben noch wie ihre Vorfahren als Rentierhirten in der Tundra. Sie steht zwischen zwei Männern. Ruslan ist ihr Verlobter, der sie mit ständigen Anrufen kontrolliert. Bei ihm, einem Russen, fühlt sie sich sicher, doch zwischen ihr und Tschander, einem Korjaken, herrscht eine größere Vertrautheit.
Mascha ist nur zu Silvester kurz nach Hause zurückgekehrt. Mit ihrer Homosexualität ist ihr die Anonymität der Großstadt lieber.
Vor über zwei Jahren ist noch ein anderes Mädchen spurlos verschwunden, Lilja. Nach ihr hat damals die Polizei weniger intensiv gesucht. Lag das daran, dass sie keine Russin war? Oder ist sie einfach weggelaufen, um woanders unabhängig zu leben? Schließlich war sie schon achtzehn Jahre alt und hatte einen etwas zweifelhaften Ruf.
Rewmira, eine Verwandte von Lilja, wird vom Schicksal schwer gestraft.
Und Nadja versucht wegzukommen von ihrem Lebensgefährten und der Bruchbude, in der sie hausen. Doch bei ihren Eltern finden sie und ihre kleine Tochter keine Unterstützung.
Es sind durchweg triste Frauenbiographien, die vor uns ausgebreitet werden. Nicht jede Geschichte ist gleichermaßen interessant, nicht jedes Schicksal konnte mich erreichen.
Am stärksten berührt hat mich das vorletzte und längste Kapitel des Buches. Hier treffen sich Marina, die Mutter der beiden verschwundenen Mädchen und Alla, die ihre Tochter Ilja schmerzlich vermisst und überzeugt ist, dass sie einem Verbrechen zum Opfer fiel. Sie begegnen sich auf einem Festival für indigene Kultur und jede Mutter hat ihre eigene Art, mit der Trauer umzugehen.
Immer wieder tauchen Hauptfiguren aus früheren Kapiteln später als Nebenfiguren auf. So erfährt man ein eher beiläufig, wie es weiterging mit ihnen. Das fordert den Leser , macht aber gleichzeitig Spaß, die losen Erzählfäden in Verbindung zu bringen. ( Hilfreich ist dabei die abgedruckte Liste der Hauptfiguren.)
Es ist eine von Männern dominierte Welt, in der sich Frauen behaupten müssen und dabei oft scheitern oder verhärten.
Durchgängiges Motiv in dem Roman ist das der Verlusterfahrung. Die einen trauern um ihre Kinder oder beklagen das Fehlen der Ehemänner, eine verliert ihren Hund, die wichtigste „ Bezugsperson“ in ihrem Leben, andere trauern vergangenen Zeiten hinterher. „ Die Gemeinden, in denen Rewmira aufgewachsen war, lösten sich auf, das machte es einfacher, sie zu vergessen, es waren Orte, die verschwanden. Rewmira Eltern hatten sie in einer starken Gemeinschaft erzogen, in einem idyllischen Dorf, mit Menschen, die noch Prinzipien hatten, in einer lebendigen ewenischen Tradition, einer sozialistischen Nation mit großen Errungenschaften. Diese Nation war zusammengebrochen, und an ihre Stelle war eine große Leere getreten.“
Doch oft sind es einfach Träume von einem besseren Leben, die sich zerschlagen haben, Illusionen, die begraben werden.
Auch die indigene Bevölkerung trägt schwer an ihren Verlusten, sie wirkt entwurzelt. Ihre frühere Lebensgrundlage zerbröckelt, die Jungen treibt es weg von daheim, das kulturelle Erbe verkommt zur Folklore. Überall spürbar ist der alltägliche Rassismus, die Diskriminierung .
Die Autorin versteht es meisterhaft, auf wenigen Seiten ganze Lebensmodelle und Schicksale zu entwerfen. Dabei erzählt sie konsequent, in einer klaren und eher nüchternen Sprache, aus der weiblichen Perspektive. Zusammen ergibt das ein vielstimmiges Portrait einer ganzen Gesellschaft.
Wer sich gerne literarisch in unbekannte Welten entführen lässt, für den ist dieser Episodenroman eine Entdeckung. Ein lesenswertes Debut, das einen aufmerksamen Leser braucht.
Ob sich das Rätsel um die verschwundenen Mädchen am Ende auflöst, soll hier nicht verraten werden.


 

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