Rezension Rezension (4/5*) zu Das Verschwinden der Erde: Roman von Julia Phillips.

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.620
16.626
49
Rhönrand bei Fulda
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Drama in einem abgehängten Landstrich

Als erstes fällt die ungewöhnliche Struktur des Romans auf. Dreizehn Kapitel erzählen Ereignisse aus der Sicht jeweils einer anderen Person, jedes Kapitel ist übertitelt mit dem Monatsnamen, insgesamt unfasst der Zeitraum ein Jahr. Immer sind es Frauen oder Mädchen, die im Mittelpunkt stehen; alle durch Verwandtschaft, Freundschaft oder beruflich miteinander verbunden. Und ungewöhnlich ist schließlich auch das Setting: die Halbinsel Kamtschatka im äußersten Osten Russlands. Eine prachtvolle Vulkanlandschaft, aber wenig erschlossen. Wegen der besonderen Lage - auf dem Landweg ist die Halbinsel nur schwer erreichbar - diente Kamtschatka zu Sowjetzeiten als Militärstützpunkt. Gegenwärtig ist es ein strukturschwaches, dünn besiedeltes Gebiet. Die wenigen indigenen Menschen, die hier noch leben, werden oft als Leute zweiter Klasse behandelt. Kaum jemand hat große Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten, und die größten Verlierer scheinen die Frauen zu sein.

In "August", dem Eingangskapitel, verschwinden vom Strand bei Petropawlowsk, der größten Stadt der Halbinsel, die russischen Schwestern Sofija und Aljona. Eine Zeugin will sie noch bei einem Unbekannten im Auto gesehen haben - die Leserin weiß: die Kinder wurden entführt. Die (eher schleppend vorangetriebenen) Ermittlungen und die Auswirkungen des Vorfalls sind aber nur der Aufhänger für das, worüber die Autorin erzählt: gescheiterte Lebensentwürfe, vergebliches Bemühen, Vorurteile, Langeweile und - immer wieder - die Verantwortungslosigkeit der Männer, vor allem der Väter. Die geballte Ladung toxischer Männlichkeit muss die Leserin über sich ergehen lassen, und Verständnis für die Freunde, Ehemänner, Väter jener geschilderten Frauen und Mädchen wird - bis auf wenige Ausnahmen - von der Autorin weder gezeigt noch eingefordert. Die Frauen müssen alleine klarkommen, und sie tun es auch; im großen und ganzen.

Die kunstvolle Verwobenheit der einzelnen Kapitel, die fortschreitend immer neue Frauen in den Fokus rücken und zugleich die Geschichte früherer Hauptpersonen nebenher weitererzählen, ist bestechend, bringt aber mit sich, dass jeder geschilderte Lebenskonflikt den gleichen Raum und Stellenwert erhält: die junge Russin beim Campingausflug, deren Freund hinreißend schön und sexy, aber nun mal nicht die hellste Kerze auf der Torte ist, beschäftigt uns ebenso lang und intensiv wie die Krankenschwester, die zum zweiten Mal Witwe wird, und die allein lebende Wissenschaftlerin, die verzweifelt nach ihrem Hund sucht. Es wird viel Alltägliches erzählt und viel Erschütterndes und tief Bewegendes. Die Autorin, die zehn Jahre an dem Buch gearbeitet und mehrmals eingehend an Ort und Stelle recherchiert hat, widmet auch dem indigenen Volk der Ewenen intensive Aufmerksamkeit, macht die untergehende Welt der Menschen fühlbar, die ihre traditionelle Lebensweise weiterverfolgen, obwohl sie immer mehr zur örtlichen Folklore verkommt. Auch die Landschaft wird mit eindringlichen Schlaglichtern geschildert - die Berge und heißen Quellen, die Wälder (sogar ein Bär tritt auf) und die Unsicherheit, die das Leben in diesem Land intensiver Vulkanaktivität mit sich bringt.


Fazit: Ein lesenswerter Roman aus einem fremdartigen Land, einfühlsame Schilderung großer und kleiner Konflikte; die Sprache klar und präzise mit gelegentlichen poetischen Wendungen.

".... Endlich konnten Kamtschatkas Einwohner ihr eigenes Land erkunden. Katjas Familie war nördlich bis nach Esso gereist, um die Ureinwohner und ihre Rentierherden zu sehen, nach Westen, um die Krater zu besichtigen, und in den Süden, um Kaviar aus den nicht mehr bewachten Seen zu holen. Sie verbrachte ihre Jugend in der kurzen, unbekümmerten Phase zwischen kommunistischem Stillstand und Putins Aufstieg, und obwohl sie in die Rolle einer Grenzkontrolleurin hineingewachsen war, die Einfuhren inspizierte und Vorladungen aussprach, steckte in ihr noch immer das postsowjetische Kind. Ein Teil von ihr sehnte sich nach der Wildnis. Katja wurde eins mit der Dunkelheit."


 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.605
21.866
49
Brandenburg
Eine wunderbare Zusammenfassung ist das. Nicht zu viel und nicht zu wenig gesagt!!

Bei der Sprache bin ich nicht ganz einig, obwohl das mit den poetischen Einsprengseln durchaus richtig ist - aber sie ist auch manchmal abgehakt und ich fragte mich, ob es nicht doch da und dort an der Übersetzung hakte.