Rezension Rezension (4/5*) zu Das Mädchen mit den blauen Augen: Roman von Michel Bussi.

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
5.835
7.675
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Verwirrspiele...

Nach einem tragischen Flugzeugabsturz im verschneiten Jura mutet es wie ein Wunder an, dass einer der Passagiere tatsächlich überlebt hat. Es ist ein kleines, erst wenige Wochen altes Baby, und mit seinen leuchtend blauen Augen ist es für die kommenden Monate der Star der Medien. Denn nicht nur das Wunder der Rettung beschäftigt die Öffentlichkeit, sondern auch die Frage, wer dieses Kind eigentlich ist - auf der Passagierliste sind zwei Säuglinge vermerkt, beide Mädchen, beide drei Monate alt. Die Familien de Carville und Vitral kämpfen in einem langwährenden Sorgerechtsprozess um dieses Kind - denn 1980 gab es die Möglichkeit eines DNA-Tests zur Klärung einer möglichen Verwandtschaft noch nicht.

Als das Gericht trotz nicht zuverlässig ausgeräumter Zweifel schließlich das Urteil fällt, dass das überlebende Kind Emilie Vitral sei, findet sich die Familie de Carville nicht wirklich damit ab. Als eine der reichsten Familien Frankreichs engagiert sie gleich nach der Urteilsfällung für 18 Jahre den Privatdetektiv Crédule Grand- Duc, damit dieser allen Spuren nachgehen kann, um die wahre Identität des Kindes aufzudecken - denn die de Carvilles sind davon überzeugt, dass nicht Emilie Vitral das Unglück überlebt hat, sondern Lyse-Rose, das Kind ihrer Familie. Zu Emilies 18. Geburtstag lässt ihr der Privatdetektiv seine gesammelten Aufzeichnungen zukommen - und wird kurz darauf tot aufgefunden. Emilie verschwindet...


Jetzt, da Lylie Grand-Ducs Aufzeichnungen gelesen hatte, war Malvina nicht mehr die einzige Bombe mit Zeitzünder, die frei herumlief. Grand-Duc hatte dem elternlosen Mädchen ein vergiftetes Geburtstagsgeschenk gemacht. Dunkle Geheimnisse zweier Familien. Doppeltes Leid. (S. 116)


Lylie wird das Mädchen meist genannt, das den Flugzeugabsturz überlebt hat - eine zärtlicher Kosename, und eine Mischform von Lyse-Rose und Emilie. Dieser Name deutet schon die Zerissenheit an, die diesem Mädchen auferlegt wurde - und mit ihm gleich zwei Familien. Doch obwohl Lylie der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist, taucht sie in der Erzählung meist nur indirekt auf. Denn kurz nach ihrem 18. Geburtstag ist und bleibt sie verschwunden. Ihr Bruder Marc Vitral macht sich auf die Suche nach ihr und liest dazu ebenfalls die gesammelten Aufzeichnungen de Privatdetektivs Crédule Grand- Duc. Und kommt der Wahrheit immer näher...

Michel Bussi hat die Geschichte interessant konzipiert. Abwechselnd erzählt er in flüssigem Schreibstil die Geschehnisse in der Gegenwart von 1998 und in Rückblenden aus der Aufzeichnung des Detektivs seit 1980. Doch statt einer Klärung gibt es immer mehr Fragezeichen, die beim Leser auftauchen. Fakten, die gesichtert scheinen, werden plötzlich infrage gestellt. Immer wieder gibt es Tote - doch weshalb? Macht, Geld und Intrigen - und nicht zuletzt die Frage nach der wahren Identität: eine interessante und brisante Mischung, die Bussi hier präsentiert. Zahlreiche Wendungen, die so manchen Charakter plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen, halten den Leser gespannt beim Geschehen. Dabei ist der Erzählfluss eigentlich sehr ruhig, die Spannung lauert eher im Nacken. Zuletzt konnte ich das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, denn ich wollte unbedingt wissen, worauf das alles nun hinausläuft - und wurde überrascht.


"Wer ein Tuareg-Kreuz verschenkt, verschenkt zugleich die ganze Welt." - "Ich kenne die Legende, sagte Emilie leise. "Ich schenke dir die vier Himmelsrichtungen, weil ich nicht wissen kann, wo du sterben wirst." (S. 31)


Ein mit dem Prix Maison de la Presse ausgezeichneter Spannungsroman, der mehr hielt, als ich mir anfangs davon versprach. Wirklich eine schöne Entdeckung.


© Parden


 
  • Like
Reaktionen: Renie