Rezension (4/5*) zu Das Mädchen, das man ruft (Quartbuch) von Tanguy Viel

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Von Macht und Ohnmacht

Von Macht und Ohnmacht

Ehrlich gesagt habe ich mir bei dem Titel „Das Mädchen, das man ruft“, dem neuen, im französischen Original 2021 veröffentlichten Roman von Tanguy Viel und hier 2022 im Klaus Wagenbach Verlag (Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel) erschienen, keinen Kopf über die Bedeutung desselben gemacht.

Relativ zu Anfang aber wird deutlich, dass es sich um die (freie?) Übersetzung von „Call Girl“ handelt. Nun…

Aber der Titel ist (im Nachhinein betrachtet) gut gewählt – passend zum (meiner Meinung nach) leicht undurchsichtigen Charakter von Laura, deren Geschichte die Leserinnen und Leser hier nach und nach erfahren.

Es ist die (altbekannte) Geschichte „Ich tue dir einen Gefallen, sehr gerne sogar, aber ich erwarte auch etwas dafür!“ Laura kehrt in die Stadt ihres Vaters Max Le Corre, eines ehemaligen Boxprofis und jetzt Chauffeur des Bürgermeisters, zurück. Da die Wohnsituation in der kleinen bretonischen Küstenstadt schwierig ist, lässt Max seine Verbindungen „nach ganz oben“ spielen und sein Chef ergreift nur zu gern die Gelegenheit…

Die sich zuspitzende Situation erzählt Tanguy Viel in etlichen Thomas Mann-Endlossätzen und würzt das Ganze mit teilweise äußerst klugen und schönen Metaphern, die zwar auch mal über das Ziel hinausschießen, aber da sei hier großzügig der Mantel des Schweigens drüber ausgebreitet. Denn der Großteil weiß wirklich zu gefallen bzw. zu begeistern.

Man könnte dem Autor vorwerfen, dass seine Charaktere zu „holzschnittartig“ sprich zu eindeutig böse oder (wie in Lauras Fall) naiv daherkommen und so das Ganze etwas „vorhersehbar“ ist. Nein, ist es ganz und gar nicht – das kann ich versichern.

Ich gebe zu, „Das Mädchen, das man ruft“ ist kein Buch für´s Wartezimmer oder für´s Sofa, wenn nebenbei der Fernseher läuft – dafür ist es sprachlich und thematisch zu komplex und auch wenn der Roman nur 160 Seiten hat, braucht es seine Zeit, um sich an die wechselnde Perspektive, die Bandwurmsätze und die nie (offen, aber deutlich genug beschriebenen) Handlungen und Ungeheuerlichkeiten zu gewöhnen. Und trotzdem kann man es ab einem bestimmten Punkt nicht mehr aus der Hand legen, weil man wissen will, wer hier eine Niederlage „kassiert“ und wer „oben auf“ ist bzw. bleibt.

Wer also komplex-kompakte Geschichten mag, dem sei dieser Roman ans Herz gelegt.

Von mir gibt´s sehr gute 4* und ergo eine Leseempfehlung.

©kingofmusic