Rezension Rezension (4/5*) zu Das Genie von Klaus Cäsar Zehrer.

Literaturhexle

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Buchinformationen und Rezensionen zu Das Genie von Klaus Cäsar Zehrer
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Wie hart es ist, ein Wunderkind sein zu müssen

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Romanbiografie über William James Sidis (1898-1944).
Zu Beginn lernt man seinen Vater Boris Sidis kennen, der aus der Ukraine in die USA immigriert war. Aufgrund seiner Intelligenz schaut er auf die einfachen Arbeiter herab und hält sich für etwas Besseres. Dadurch eckt er natürlich bei Kollegen und Vorgesetzten an. Seine Zeit investiert er ins Lernen vieler Sprachen, wird Stammgast in der Bibliothek. Geld verdienen ist für ihn nur eine Notwendigkeit, dem Lernen gilt seine Leidenschaft. Seine künftige Ehefrau Sarah lernt er kennen, indem er ihr Französisch-Unterricht erteilt. Auch sie hat ähnliche Wurzeln wie Boris und möchte unbedingt vorwärts kommen. Boris erkennt ihren wachen Verstand und beschließt, sie zu heiraten. Gefühle spielen bei dieser Entscheidung keine Rolle.

Im Folgenden erreichen beide akademische Abschlüsse, Boris ist zunehmend fasziniert von der Psychologie, über verschiedene Winkelzüge wird er Professor für dieses Fach.
Als Sarah schwanger wird und einen Sohn bekommt, entwickelt Boris eine spezielle Erziehungsmethode, die schon frühzeitig das Gehirn des Säuglings anregen soll. Ablenkungen in Form von Liebe und Streicheleinheiten sind dabei unerwünscht. Mit zunehmendem Alter wird William ausschließlich mit Wissen gefüttert und als Erwachsener behandelt, er hinterfragt alles, bekommt keine Grenzen gesetzt, ist in jeder Beziehung besonders. Früh kann er flüssig lesen, beherrscht die Mathematik, überfliegt die Klassen, landet schließlich mit 14 Jahren in Harvard zu einem Sonderstudium für hochbegabte Kinder…
Die Eltern sehen sich am Ziel ihrer Träume. Überall führt der Vater den Sohn vor wie ein Zirkuspferd, präsentiert dessen geistige Leistungen als seinen eigenen Verdienst, erreicht durch die Sidis´sche Erziehungsmethode. Vater Sidis eröffnet als Psychologe ein Sanatorium und das Wunderkind soll dessen persönliche Reputation stärken.

Während des Studiums fängt Williams (genannt Billy) Leiden an. Im Studentenwohnheim wird er von den älteren Jungen geärgert, mit seiner vorlauten Art eckt er überall an und ist mit dem normalen Leben überfordert. Die Eltern reagieren mit Unverständnis. Billy bekommt noch eine Schwester, mangels Zeit können die Eltern ihr nicht die gleiche "Förderung " angedeihen lassen wie dem Bruder. Dadurch entwickelt sie sich normal.

Billy entscheidet sich für die Mathematik, ihm fehlt jedoch die Reife, in einem Beruf Kompromisse zu schließen und sich anzupassen. Oft muss er von neuem anfangen. Er schließt sich den Kommunisten an, wird überzeugter Pazifist, wodurch ihm in Kriegszeiten wieder Schwierigkeiten drohen. Ein Heft mit Prinzipien wird sein Halt in schwierigen Zeiten. Er begeistert sich für Straßenbahnen, für Umsteigetickets. Schließlich sucht er einen Schuldigen für seine Schwierigkeiten…
Das ehemalige Wunderkind William James Sidis bleibt sein ganzes Leben lang ein einsamer, unverstandener Wolf. Nur seine Schwester Helena ist eine Konstante in seinem Leben.

Das Buch liest sich sehr spannend. Man leidet mit dem jungen Mann mit, der aus meiner Sicht fast autistische Züge hat. Wer so aufgewachsen ist wie William J. Sidis, kann sich nicht normal entwickeln. Viele überzogen scheinende Stellen werden im Anhang durch Quellenhinweise belegt: Es ist kaum zu glauben, dass sich das alles so oder ähnlich zugetragen hat.
Diese Lebensgeschichte zu lesen, lässt einen das Buch betroffen zuschlagen und gibt einem einmal mehr die Erkenntnis, dass Wissen, Erfolg und Ehrgeiz nicht alles im Leben sind.


von: Nina Blazon
von: Lindsey Lee Johnson
von: Bodo Kirchhoff
 
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Tiram

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4. November 2014
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Sehr interessant. Ich kann mich an eine Diskussion erinnern, in den 90er Jahren. Da war uns aufgefallen, dass solche Wunderkinder alle nicht alt geworden sind. Und wie ich eben gegoogelt habe, ist ja auch Billy nur Mitte vierzig geworden.
Ich könnte mir vorstellen, dass solche Menschen oftmals ein seelisches Wrack sind.
 

Literaturhexle

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Ich könnte mir vorstellen, dass solche Menschen oftmals ein seelisches Wrack sind.
Genau so scheint es auch bei Sidis gewesen zu sein. Man muss sich das vorstellen: Kindheit ohne Liebe, kein Erlernen normaler lebenspraktischer Dinge, immer nur umgeben von Erwachsenen, intellektuell hochgezüchtet und bevormundet.
Sidis kam in Folge mit der Welt und den Menschen nicht zurecht. Sobald er nicht mehr vorzeigbar war, wurde er von den Eltern fallen gelassen. Wer kann so etwas seelisch unbeschadet überstehen?
Interessant, dass die Wunderkinder alle nicht so alt geworden sind....
Wobei Sidis sich nicht das Leben genommen hat.
 
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