Rezension (4/5*) zu Das Flüstern der Feigenbäume von Elif Shafak

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Weise gehen in den Garten

"Dumme rennen, Kluge warten, Weise gehen in den Garten ..." (Rabindranath Tagore)

Die Zeiten, als "ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt", sind lange vorbei. Mehr denn je ist es heute notwendig über Bäume zu sprechen - man spricht automatisch über die Untaten mit. So lässt auch Elif Shafak in dem Roman "Das Flüstern der Feigenbäume" zwei Bäume erzählen; oder vielmehr nur einen einzigen Baum, denn der zweite, jüngere ist ein Ableger des ersten.

Die alte Feige, die zuerst erzählt, wächst mitten in einer Taverne auf Zypern durch die Decke des Gastraums. Es gibt dort zwei Gastwirte, einen Griechen und einen Türken. Und die Taverne ist der einzige Platz, an dem sich das junge Liebespaar Kostas (ein Grieche) und Defne (eine Türkin) treffen können. 1974, als die Geschichte beginnt, sind beide erst achtzehn. Mit der gewaltsamen Besetzung Nordzyperns durch die Türken wird ihre Liebe vollends unmöglich; sie werden getrennt. Erst in den frühen 2000er Jahren sehen sie einander wieder.

Wie wir in einem zweiten Erzähstrang aus den 2010er Jahren schon zu Anfang erfahren haben, schaffen es die beiden doch noch, in London eine Familie zu gründen. Die Autorin verbindet die beiden Stränge sehr geschickt durch die immer wieder eingeschobenen Kommentare des Feigenbaums; die Geschehnisse in London beobachtet der jüngere Klon des ersten. Kostas ist ein leidenschaftlicher Gärtner und Naturschützer, der die alte Feige in seinem Londoner Garten zu neuer Blüte bringt. Hier versucht die sechzehnjährige Ada, Tochter von Kostas und Defne, sich die Geschichte ihrer Familie zu erschließen. Ihre klarsichtige Intelligenz, begleitet von pubertärer Nickligkeit, bringt im Nachhinein ein wenig Witz und Alltag in die tragischen Erzählungen aus der Vergangenheit.

Elif Shafak erzählt äußerst lebendig und einfühlsam. Kostas' und Defnes Liebe wird zum Sinnbild der Verwerfungen des Bürgerkriegs. Von den vielen Kriegstoten und Vermissten berichtet die erwachsene Defne, die mit einem Archäologenteam anonyme Gräber öffnet und Tote zu identifizieren versucht. Weitere Beiträge zur Geschichte der Insel Zypern kommen von der "glücklichen Feige" (das ist der Name der Taverne!), dem alten Baum, der als gewachsener Bestandteil der Insel eine Art Universalwissen mitbringt. Hier wird es manchmal ein bisschen zuviel des Guten, wenn die Feige berichtet, was ihr eine Ameise, eine Maus oder eine Biene erzählt haben: Klatsch und Tratsch zwischen Pflanze und Tier unter dem grünen Blätterdach. Trotzdem sind gerade diejenigen Kapitel, in denen die Feige spricht, oft wahre Juwelen der Erzählkunst. Hier wird in schöner, schlichter und bildhafter Sprache der Bogen gespannt zur heutigen Zerstörung ganzer Ökosysteme, Artensterben, "Speciesismus" (warum verachten wir Tauben und Flughunde?), aber auch zur Resilienz und Auferstehung der Natur auch unter schwierigsten Bedingungen.

Ein Buch über alles: die Feigenbäume flüstern über Bürgerkrieg und Vorurteile, über Umweltzerstörung, Aberglauben und Intoleranz, Ökologie und die heilsame Kraft alter Bäume. Sehr lesenswert! (Kleiner Punktabzug nur wegen der Dialoge zwischen Feige und den sie besuchenden Tieren, die manchmal sehr "herbeigeschrieben" daherkommen.)

 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Wird denn auch die Speisekarte der Taverne vorgelesen?
Ich habe ja eine Schwäche dafür, eingehend über Essen zu lesen, und diese Speisekarte kann man nicht lesen, ohne mit Sabbern anzufangen! :D
(Übrigens ist diese Speisekarte kein bloßer Gag. Sie zeigt, wie verschiedene Kulturen einander befruchten und bereichern können.)
 

otegami

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17. Dezember 2021
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Na klar und ich saß dann sabbernd beim Bügeln :cool: !
(Ich bin übrigens gerade an der Stelle, wo Kostas und Dafne wieder als Erwachsene viele Jahre später aufeinandertreffen. *Flüster* bin gespannt, wieviel man noch von dem Kind erfährt!)
Sie zeigt, wie verschiedene Kulturen einander befruchten und bereichern können.)
Oh ja, und dafür habe ich ja eine Schwäche! Ich finde das soooo interessant! ;)
 

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