Rezension Rezension (4/5*) zu Das Buch der vergessenen Artisten: Roman von Vera Buck.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Das Buch der vergessenen Artisten von Vera Buck
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Gegen das Vergessen

Ein Buch mit einem ganz expliziten Anspruch „Gegen das Vergessen“ konnte ich über die Weihnachtstage im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin lesen: Vera Bucks „Das Buch der vergessenen Artisten“. Dank an den LIMES Verlag und die Organisatoren von Whatchareadin.
Worum geht es?:
Mathis Bohnsack wächst ganz zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter den für ihn wohl annähernd unglücklichsten Umständen überhaupt auf: Als jüngster und zudem körperlich verkrüppelter Sohn eines Bohnenbauern im Ort mit dem anheimelnden Namen Langweiler ist es für ihn quasi vorherbestimmt, in die Fußstapfen seines Vaters einzutreten und neben seinen ihn ständig drangsalierenden Brüdern ein kleines Stückchen Erde mit Bohnen zu bepflanzen und diese zu ernten. Dass er angesichts dieser Zukunft nur Unglück empfinden kann, ist dabei nicht allein seiner Allergie gegen Bohnen geschuldet.
Da verhilft ihm ein durchziehender Jahrmarkt zu einem Lichtblick in dieser grauen Langweiler-Welt. Er verliebt sich. Und zwar nicht in eine Frau, sondern in eine Maschine. Diese Maschine, die wir heute als nicht wegzudenkendes Diagnoseinstrument aus der Medizin kennen, ist zu dieser Zeit dafür geeignet, den Menschen eine Welt der Wunder und Absonderlichkeiten aufzuzeigen. Die Rede ist von einem Röntgengerät, ein Gerät, das Lebewesen für das Publikum zu Skeletten werden lässt und ihm ganz neue, ganz absonderliche Einblicke ermöglicht. Und so hat diese Maschine mit ihrem Herrn und Meister Bo über Jahre Erfolg im Umkreis von anderen zur Schau gestellten Sonderbarkeiten, wie Zwergen, Riesen oder auch Haut- und Haarmenschen. Von einer Gefährdung, die von diesem Gerät und dem Umgang mit ihm ausgehen könnte, ist dabei keine Spur eines Bewusstseins. Mathis schafft es, Meister Bo dazu zu überreden, ihn trotz seines jugendlichen Alters mitziehen zu lassen, um als sein Assistent bei der Demonstration der Maschine Handlangerdienste zu verrichten.
Und so taucht Mathis ein in die Welt der Kleinkünstler und Artisten, kann Langweiler entfliehen und Stationen in der großen, weiten Welt machen. Bei einer der Stationen verliebt er sich erneut, und diesmal ist es eine Frau, nämlich die Kraftfrau Meta, die in Hosen gekleidet (das allein ist eine Provokation ohne gleichen) in Theatern, Panoptikums und Zirkussen Männer aufs Parkett legt und das „starke Geschlecht“ ganz schön alt und klein aussehen lässt. Das schafft ihr nicht nur Freunde, aber in jedem Fall auch so viel Aufmerksamkeit, dass sie in der Welt der Artisten mit ihren Kraftakten eine feste Größe sein kann.
Zwischen Meta und Mathis beginnt eine lange Freundschaft, die bei aller gelebten Nähe nur sehr sperrig und langsam den Charakter einer Liebesgeschichte annehmen kann. Großes Hindernis auf diesem sperrigen Weg ist vor allem Metas Bruder Ernsti, ein geistig zurückgebliebener, zu gewalttätigem Verhalten neigender Mensch, der permanent zwischen ihnen steht oder auch liegt und eine wirkliche Beziehung nicht zulassen will.
In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bröckelt die einigermaßen erfolgreiche Phase dieses merkwürdigen Gespanns. Überhaupt ist ein Niedergang der Welt der Artisten und Kleinkünstler eingezogen, denn diese lässt sich so gar nicht in Einklang bringen mit der angestrebten Welt der Nationalsozialisten, die angefüllt sein soll mit gebärfreudigen, unterwürfigen Frauen und starken, blonden Männern. Die Arbeitsmöglichkeiten der Artisten werden immer seltener. Und die meisten von ihnen müssen irgendwann erkennen, dass sie sich nicht gerade in einer Übergangszeit ohne Engagement befinden, sondern es ganz einfach keinerlei Arbeitsmöglichkeiten mehr für sie gibt. Und noch schlimmer: Sie werden nicht nur nicht benötigt in der neuen Welt des Dritten Reiches, sie stören diese ganz erheblich. Und so verschwinden langsam und leise immer mehr von ihnen nach abendlichen Besuchen der Sicherheitsorgane und tauchen auch nicht wieder auf.
Mathis lässt diese Situation keine Ruhe und er beschließt, dagegen anzuschreiben und die Geschichten der Artisten festzuhalten, bevor diese aus dem kollektiven Gedächtnis ganz verschwunden sein werden. Das Sammeln und Aufschreiben von Informationen über die Artisten wird seine Mission, für die nicht nur Meta vollkommen das Verständnis fehlt und die immer im Verborgenen vor den Staatsmächtigen stattfinden muss.
Meta lebt dabei den immerwährenden Traum der Ausreise in die USA. Mehrmals scheint eine solche Rettung über den großen Teich möglich zu werden, doch immer wieder zerschlägt sich dieser Traum und sie wird in die grausame Wirklichkeit des Dritten Reiches zurückgeholt. In dieser wird schließlich Ernsti abgeholt und in eine Anstalt für geistig Behinderte eingeliefert. Eine rasante Befreiungsaktion beginnt und gibt dem Buch bis auf die letzte der ca. 750 Seiten Fahrt und Spannung.
Fazit:
Very Buck erzählt in diesem Buch eine erstaunlicherweise bisher noch unerzählte Geschichte. Die Gleichschaltungsbemühungen der Nazis in allen Bereichen des deutschen Lebens haben natürlich auch nicht an der Tür zur Welt der Artisten und Kleinkünstler halt gemacht. Was nicht passt, wurde passend gemacht oder musste eben verschwinden.
Vera Buck gebührt ein großer Applaus, dass sie diese Lücke des Erzählten geschlossen hat und nun diese Welt vor dem Vergessenwerden bewahren konnte. Mit dem gleichen Enthusiasmus wie auch Mathis widmet sie sich diesem Thema und stürzt sich mit aller Kraft und großem Elan in dessen Bearbeitung. Die enorme Recherchearbeit ist in den Roman eingeflossen, was mir hin und wieder sogar etwas zu viel wurde. Jedes Thema, das ihr bei dieser Recherche aufgestoßen ist, scheint sie in den Roman, wenn auch nur kurz, einfließen zu lassen. Da werden große Themen dann hin und wieder so en passant und nebenbei eingefügt (die nährstoffbefreite Nahrung für Insassen der Anstalten für geistig Behinderte, die trotz regelmäßiger Nahrungsaufnahme zu einem langsamen Hungertod führt; das Schicksal einer jüdischen Hochspringerin, die trotz weltmeisterlicher Leistungen nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen darf; die Autarkiebestrebungen Hitlers auch in Bereich der Nahrungsmittel, die zu der Notwendigkeit führen, die Deutschen in ihren Essgewohnheiten entscheidend umzuerziehen). Das wirkte auf mich dann manchmal etwas fahrig und nachlässig. Weniger wäre an manchen Stellen mehr gewesen.
Dennoch bleibt mein Fazit unbedingt positiv. Ein Buch mit viel Handlung und mit einem guten Eintauchen in Zeit und Ort der Handlung. So ein wenig fehlten mir in dem Roman dann aber die Ecken und Kanten in der Geschichte, die zweideutigeren Charakterte, die nicht so offensichtlich auf der Skala Gut oder Böse einzuordnen sind.
Ich vergebe für dieses Buch deshalb einen großen Applaus und 4 von 5 Sternen.


 
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