Rezension Rezension (4/5*) zu Dankbarkeiten: Roman von de Vigan, Delphine.

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.072
49
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Am Ende des Lebensweges

Die kinderlose Michka Seld muss ins Seniorenheim. Die bislang rüstige und selbständige Dame hat diffuse Verlustängste und verliert zunehmend die Sprache, was sie sehr quält, da sie zeitlebens Worte sowie die Literatur liebte. Zum Glück gibt es Marie. Die junge Frau lebte als Kind im gleichen Wohnblock. Ihre Mutter war oft nicht zu Hause und vernachlässigte das Mädchen. In diesen Situationen war Michka zur Stelle, sie nahm die Stelle der Zieh-Großmutter ein, die eine wichtige Rolle in Maries Leben spielte und der sie große Dankbarkeit entgegenbringt.

Marie kümmert sich nun auch rührend um die alte Frau. Sie suchen gemeinsam einen Heimplatz. Auch wenn Michka die Notwendigkeit umzusiedeln voll und ganz anerkennt, fällt der Abschied vom Zuhause doch schwer: „Sie zieht ihre Wohnungstür hinter sich ins Schloss, diese Tür, die sie hunderte Male geschlossen hat, doch heute weiß sie, dass sie es zum letzten Mal tut. Sie besteht darauf, selbst abzuschließen. Sie weiß, dass sie nicht zurückkehren wird.“ (S. 28) Es sind solche Sätze, die Vigan beherrscht, und die tief in die Seele ihrer Figuren blicken lassen.

Im Heim hat Michka Schwierigkeiten sich einzugewöhnen. Sie hat Albträume und leidet unter dem zunehmendem Sprachverlust. Letzterem soll Logopäde Jerome entgegenwirken.
Jerome liebt seinen Beruf und sagt über die alten Menschen: „Ich empfinde Zärtlichkeit für das Zittern ihrer Stimme. Für diese Zerbrechlichkeit. Diese Sanftheit. Ich empfinde Zärtlichkeit für ihre verzerrten, ungenauen, verirrten Wörter und für ihr Schweigen. Und ich hebe alles auf, auch wenn sie gestorben sind.“ (S. 41)

Jerome besucht die alte Dame zweimal wöchentlich, er spricht mit ihr, macht kleine Tests und Spiele, die den Wortschatz trainieren sollen, die der Patientin aber nicht immer gefallen. Michka versteht es, den jungen Mann in Gespräche zu verwickeln, beide werden vertraut und teilen manches ihrer Geheimnisse miteinander. Michka hat in ihrer Kindheit große Verluste erlitten. Es gab aber auch Menschen, die ihr in dieser Zeit sehr geholfen haben. Es ist ihr ein lebenslanges Anliegen gewesen, ihnen zu danken. Ein Wunsch, der bislang unerfüllt blieb.

Der Roman wird wechselweise aus den Perspektiven von Marie und Jerome erzählt. Sämtliche Passagen haben Michka als zentrale Figur, in deren Gefühlswelt man sich hervorragend hineinversetzen kann. Der Prozess des Alterns wird geschildert, die individuelle Angst vor dem Sprachverlust und dem Verlust ihres Selbst beschäftigt die Seniorin immens. So sagt Michka auf S. 60: „Wir werden bald so weit sein, glaub mir. Es dauert nicht mehr lange bis zum Ende, das weißt du, Marie. Ich meine das Ende des Verstands, der ist dann futsch und alle Wörter verflogen…“. Die Dialoge sind anrührend. Zunehmend verändert sich Michkas Sprache. Sie kann zwar nach wie vor flüssig denken, vertauscht aber beim Sprechen einzelne Worte durch ähnlich klingende. Mich hat die daraus resultierende (unfreiwillige?) Komik, die aus meiner Sicht im Kontrast zur ernsten Handlung steht, stellenweise irritiert. Vielleicht ist diese kleine Schwäche aber auch der Übersetzung geschuldet, die mit Sicherheit keine leichte Aufgabe war.

Der Roman hält auch Hoffnung und Lichtblicke bereit. Ein Leben geht zu Ende, ein anderes beginnt. Das Leben ist ein Fluss, in dem Alter und Tod einen festen Platz haben. Davon wird mit großem Mitgefühl, aber auch mit unpathetischem Selbstverständnis erzählt.

Der Autorin ist es wunderbar gelungen, sich in einen alten Menschen, seine Gebrechlichkeiten und Gedanken hineinzuversetzen: „ Alt werden heißt verlieren lernen. Heißt jede oder fast jede Woche ein weiteres Defizit, eine weitere Beeinträchtigung, einen weiteren Schaden verkraften müssen.“ (S. 123)
Vigan beschreibt behutsam den Prozess des Abschiednehmens am Ende eines langen Lebens sowohl aus der Sicht der Betroffenen selbst als auch aus der Perspektive derjenigen, die auf diesem Weg begleiten und unterstützen. Es ist ein Buch, das wehmütig stimmt und gleichzeitig Mut macht.

Das Motiv der Dankbarkeit durchzieht dabei den kleinen Roman, der mit zahlreichen wunderschönen, allgemeingültigen Sätzen aufwartet. Wichtige Dinge darf man nicht aufschieben, irgendwann kann es zu spät sein.

Delphine de Vigan ist eine herausragende Erzählerin, ich spreche für diesen intensiven, 163-Seiten-starken und zutiefst menschlichen Roman eine große Leseempfehlung aus.


 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.637
16.694
49
Rhönrand bei Fulda
Ich habe mich gerade bei der Onleihe nach der Autorin umgesehen und zwei weitere Romane von ihr gefunden, in denen es um krankhafte Zustände geht; in einem um Alkoholismus, dem anderen um Magersucht. "Dankbarkeiten" liegt leider (noch?) nicht vor.
Sieht so aus, als ob sich Delphine de Vigan gern gefährdeter Menschen annimmt. Danke für die Rezi!

ps. Das ist ja toll, noch ein weiteres Buch mit dem Titel "Nach einer wahren Geschichte" mit folgender Inhaltsangabe:
"Ein raffiniert literarisches Spiel mit Fiktion, Wirklichkeit und Identität Delphine ist eine gefeierte Schriftstellerin, doch der Erfolg ihres letzten, überaus erfolgreichen Romans stürzt sie in eine Schaffenskrise. Da lernt sie scheinbar zufällig eine Frau kennen, die sie fasziniert: L. Völlig selbstlos nimmt L. ihr Erledigungen und Pflichten ab - und einen immer größeren Teil ihres Lebens ein. (...)"
Irre Idee!
Leider nur als Hörbuch bei der Onleihe, damit hab ich's gar nicht ...
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.072
49
Die Dankbarkeiten sind erst heute erschienen. Insofern wundert es nicht, dass die Büchereien noch etwas Zeit brauchen, liebe Häsin.
Schau dir mal dieses an. Da hat @SuPro (vielleicht auch andere) eine Rezi hinterlassen, die neugierig macht
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.

Eine Autorin, die man im Auge behalten sollte!
 

SuPro

Bekanntes Mitglied
28. Oktober 2019
1.865
4.112
49
54
Baden Württemberg
lieslos.blog
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Am Ende des Lebensweges


Die kinderlose Michka Seld muss ins Seniorenheim. Die bislang rüstige und selbständige Dame hat diffuse Verlustängste und verliert zunehmend die Sprache, was sie sehr quält, da sie zeitlebens Worte sowie die Literatur liebte. Zum Glück gibt es Marie. Die junge Frau lebte als Kind im gleichen Wohnblock. Ihre Mutter war oft nicht zu Hause und vernachlässigte das Mädchen. In diesen Situationen war Michka zur Stelle, sie nahm die Stelle der Zieh-Großmutter ein, die eine wichtige Rolle in Maries Leben spielte und der sie große Dankbarkeit entgegenbringt.

Marie kümmert sich nun auch rührend um die alte Frau. Sie suchen gemeinsam einen Heimplatz. Auch wenn Michka die Notwendigkeit umzusiedeln voll und ganz anerkennt, fällt der Abschied vom Zuhause doch schwer: „Sie zieht ihre Wohnungstür hinter sich ins Schloss, diese Tür, die sie hunderte Male geschlossen hat, doch heute weiß sie, dass sie es zum letzten Mal tut. Sie besteht darauf, selbst abzuschließen. Sie weiß, dass sie nicht zurückkehren wird.“ (S. 28) Es sind solche Sätze, die Vigan beherrscht, und die tief in die Seele ihrer Figuren blicken lassen.

Im Heim hat Michka Schwierigkeiten sich einzugewöhnen. Sie hat Albträume und leidet unter dem zunehmendem Sprachverlust. Letzterem soll Logopäde Jerome entgegenwirken.
Jerome liebt seinen Beruf und sagt über die alten Menschen: „Ich empfinde Zärtlichkeit für das Zittern ihrer Stimme. Für diese Zerbrechlichkeit. Diese Sanftheit. Ich empfinde Zärtlichkeit für ihre verzerrten, ungenauen, verirrten Wörter und für ihr Schweigen. Und ich hebe alles auf, auch wenn sie gestorben sind.“ (S. 41)

Jerome besucht die alte Dame zweimal wöchentlich, er spricht mit ihr, macht kleine Tests und Spiele, die den Wortschatz trainieren sollen, die der Patientin aber nicht immer gefallen. Michka versteht es, den jungen Mann in Gespräche zu verwickeln, beide werden vertraut und teilen manches ihrer Geheimnisse miteinander. Michka hat in ihrer Kindheit große Verluste erlitten. Es gab aber auch Menschen, die ihr in dieser Zeit sehr geholfen haben. Es ist ihr ein lebenslanges Anliegen gewesen, ihnen zu danken. Ein Wunsch, der bislang unerfüllt blieb.

Der Roman wird wechselweise aus den Perspektiven von Marie und Jerome erzählt. Sämtliche Passagen haben Michka als zentrale Figur, in deren Gefühlswelt man sich hervorragend hineinversetzen kann. Der Prozess des Alterns wird geschildert, die individuelle Angst vor dem Sprachverlust und dem Verlust ihres Selbst beschäftigt die Seniorin immens. So sagt Michka auf S. 60: „Wir werden bald so weit sein, glaub mir. Es dauert nicht mehr lange bis zum Ende, das weißt du, Marie. Ich meine das Ende des Verstands, der ist dann futsch und alle Wörter verflogen…“. Die Dialoge sind anrührend. Zunehmend verändert sich Michkas Sprache. Sie kann zwar nach wie vor flüssig denken, vertauscht aber beim Sprechen einzelne Worte durch ähnlich klingende. Mich hat die daraus resultierende (unfreiwillige?) Komik, die aus meiner Sicht im Kontrast zur ernsten Handlung steht, stellenweise irritiert. Vielleicht ist diese kleine Schwäche aber auch der Übersetzung geschuldet, die mit Sicherheit keine leichte Aufgabe war.

Der Roman hält auch Hoffnung und Lichtblicke bereit. Ein Leben geht zu Ende, ein anderes beginnt. Das Leben ist ein Fluss, in dem Alter und Tod einen festen Platz haben. Davon wird mit großem Mitgefühl, aber auch mit unpathetischem Selbstverständnis erzählt.

Der Autorin ist es wunderbar gelungen, sich in einen alten Menschen, seine Gebrechlichkeiten und Gedanken hineinzuversetzen: „ Alt werden heißt verlieren lernen. Heißt jede oder fast jede Woche ein weiteres Defizit, eine weitere Beeinträchtigung, einen weiteren Schaden verkraften müssen.“ (S. 123)
Vigan beschreibt behutsam den Prozess des Abschiednehmens am Ende eines langen Lebens sowohl aus der Sicht der Betroffenen selbst als auch aus der Perspektive derjenigen, die auf diesem Weg begleiten und unterstützen. Es ist ein Buch, das wehmütig stimmt und gleichzeitig Mut macht.

Das Motiv der Dankbarkeit durchzieht dabei den kleinen Roman, der mit zahlreichen wunderschönen, allgemeingültigen Sätzen aufwartet. Wichtige Dinge darf man nicht aufschieben, irgendwann kann es zu spät sein.

Delphine de Vigan ist eine herausragende Erzählerin, ich spreche für diesen intensiven, 163-Seiten-starken und zutiefst menschlichen Roman eine große Leseempfehlung aus.



Eine wunderbare Rezension, liebe Literatur Hexle! Das scheint ein Buch nach meinem Geschmack zu sein. Was ich mich Frage: warum hast du nur vier Sterne vergeben? Wegen des Humors und wegen der Komik?
Wenn das so wäre, dann glaube ich, dass es mich nicht stören würde. Witz, Humor und Komik sind oft so hilfreich und dringend notwendig, um dem Ernst die Schärfe zu nehmen. Bin gespannt darauf, zu erfahren, woraus der Sterneabzug resultiert.
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.072
49
Was ich mich Frage: warum hast du nur vier Sterne vergeben? Wegen des Humors und wegen der Komik?
Nein. Beim Milchmann war es "komischer" und er bekam trotzdem 5 Sterne.
Ich glaube, ich bin ein Geizkragen: für mich sind 4 Sterne ein wirklich gutes Buch, das ich gerne gelesen habe und das mich in irgendeiner Form berührt hat. Die 5 Sterne heb ich mir für die absoluten Highlights auf. Für die Bücher, die man am liebsten sofort noch einmal lesen würde.
Das ist nach unten (2 und 3 Sterne) allerdings nicht ganz gerecht. Zu ihnen ist der Abstand gefühlt größer als tatsächlich, weil ich mich mit einem Verriss generell schwer tue und dann im Zweifel auf 3 aufrunde...
 
  • Like
Reaktionen: SuPro

Beliebteste Beiträge in diesem Forum