Rezension (4/5*) zu An das Wilde glauben von Nastassja Martin

Irisblatt

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15. April 2022
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Faszinierender Blick auf ein alles veränderndes Ereignis

Die französische Anthropologin Nastassja Martin verarbeitet in ihrem autobiografischen Buch die Begegnung mit einem Bären, der sie durch einen Biss in Gesicht und Schädel lebensbedrohlich verwundete. Auch Nastassja Martin verletzte den Bären durch einen Hieb mit der Spitzhacke - beide überlebten, gezeichnet durch den jeweils anderen.
Was das Buch und die Aufarbeitung so interessant machen, ist der Blick auf diesen „Unfall“ und seine Deutung durch die Autorin.
Nastassja Martin hat jahrelang über die Gwich’in, ein indigenes Volk in Alaska, gearbeitet bevor sie ihren Fokus auf die Ewenen, die in den Wäldern Sibiriens in Kamtschatka leben, verlagerte. Ihr Forschungsinteresse gilt dem Animismus sowie den Bräuchen und den Kosmologien dieser Kultur. Begegnungen zwischen Mensch und Tier, Verbindungen zu anderen Lebewesen, schamanistische Fähigkeiten, der Zugang zu anderen Welten durch Träume und Intuition gehören für die Ewenen ganz selbstverständlich zum Weltbild und beeinflussen das Alltagsleben. Bereits vor ihrer Begegnung mit dem Bären träumte die Autorin von ihm und die Ewenen nannten Nastassja matucha (Bärin), nach dem „Unfall“ dann miedka (eine Person, die die Begegnung überlebt hat, vom Bären gezeichnet wurde und die von diesem Zeitpunkt an zur Hälfte Bär, zur Hälfte Mensch ist). Da Nastassja Martins Wahrnehmung durch die Beschäftigung mit dem Animismus beeinflusst ist, bezeichnet sie ihre existentielle Erfahrung nie als Unfall oder Angriff.
„Das Ereignis an diesem 25. August 2015 ist nicht: Irgendwo in den Bergen von Kamtschatka greift ein Bär eine französische Anthropologin an. Das Ereignis ist: Ein Bär und eine Frau begegnen sich und die Grenzen zwischen den Welten implodieren.“ (S. 125)
„An das Wilde glauben“ dokumentiert einen Heilungsprozess auf körperlicher und psychischer Ebene und konfrontiert mit einer anderen - nicht westlichen - Sichtweise auf das Leben der Menschen in und mit der Natur. Letztendlich können die medizinischen Eingriffe in Krankenhäusern den Körper wieder herstellen, die psychische Versehrtheit, das Verstehen dieses extremen Erlebnisses und die Veränderungen, die Nastassja Martin seitdem erlebt, lassen sich jedoch nicht mit westlicher Medizin und Psychologie verstehen und behandeln. „Ich habe das Bedürfnis, zu denen zurückzukehren, die sich mit Bärenproblemen auskennen; die in ihren Träumen noch mit ihnen reden; die wissen, dass nichts zufällig geschieht und dass Lebensbahnen sich immer aus ganz bestimmten Gründen kreuzen“ (S. 81). Das Buch öffnet ein Fenster in eine andere Welt, in der die Grenzen zwischen Lebewesen verschwimmen und erweitert dadurch den eigenen Blick. Der Text, der zwischen den persönlichen Empfindungen, den wissenschaftlichen Reflexionen und Erklärungsversuchen wechselt, berührt auch Fragen der Identität und der Koexistenz von Mensch und Tier. Ich habe dieses nicht immer leicht verständliche Buch mit großer Faszination und Interesse gelesen und bin froh über diese Bereicherung.