Rezension (4/5*) zu Alphabet (Quartbuch) von Kathy Page

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
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49
Wien
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A wie ambivalent

Simon Austen verbüßt eine lebenslange Haftstraße für den Mord an seiner Freundin Amanda. Im Gefängnis lernt der junge Mann lesen und schreiben und entwickelt ein enormes Gespür für Worte und Sprache. Er beginnt Brieffreundschaften mit Frauen außerhalb der Gefängnismauern, unter zweifelhaften Angaben seiner eigenen Person und Umstände. Erst die engagierte Therapeutin Bernadette Nightingale verschafft sich aufmerksam Zugang zu Simon. Ihr gegenüber beginnt sich Simon zu öffnen und sich mit seiner Tat auseinanderzusetzen.

Die britische Schriftstellerin Kathy Page hat sich lange und eindrücklich mit dem Thema Strafvollzug auseinandergesetzt. In den 1990ern war sie ein Jahr lang „Writer in Residence“ in einer Strafvollzugsanstalt in Nottingham. Ihre Erfahrungen aus dem Männergefängnis verarbeitet sie in dem Roman „Alphabet“.

Auch wenn die Figur des Simon Austen fiktiv ist, gewinnt man den Eindruck einer psychologischen Fallstudie. Insasse AS2356768 – Simon Austen – ist, wie es sich herausstellt, hochintelligent und sprachaffin. Seine Auseinandersetzung mit Worten findet sogar körperlich Niederschlag, in dem er sich abwertende Bezeichnung, die er zu hören bekam, in die Haut tätowiert. Der Alltag im Gefängnis ist stumpf und gefährlich zugleich, physische und sexuelle Gewalt allgegenwärtig. Resozialisierung und Weiterbildung für Häftlinge, insbesondere lebenslang Verurteilte, haben während der Thatcher Regierung keinen Stellenwert.
Was Kathy Page mit diesem Roman groß herausbringt, ist die Ambivalenz gegenüber ihrem Protagonisten. Simon Austen ist ein Frauenmörder. Von der drogensüchtigen Mutter im Stich gelassen wuchs er bei Pflegefamilien und Heimen auf. Im Gefängnis ist er Übergriffen anderer Häftlinge ausgeliefert. Simon ist dazu charmant, charismatisch und höchst manipulativ.

Ich muss kein Mitleid mit einem Mörder empfinden, um trotzdem die Haftbedingungen als würdelos zu empfinden. Die Verletzlichkeit und Gefährlichkeit erzeugen abwechselnd Mitgefühl und Abscheu. Kathy Page arbeitet an einem Spektrum der Empfindungen.

Obwohl Alphabet im Original schon 2004 ersterschienen ist, hat das Thema Strafvollzug und Wiedereingliederung in die Gesellschaft nichts an Relevanz verloren.