Tom Kristensen (1893–1974) schuf mit seinem bis heute bedrohlich funkelnden »Absturz« eine skandinavische Antwort auf die modernen Monumentalromane der 1920er Jahre, von Proust über Joyce und Céline bis zu Musil. Ole Jastrau, ehemals aufstrebender Lyriker, inzwischen Literaturkritiker bei einer liberalen Kopenhagener Tageszeitung, gerät vor unseren Augen aus dem Tritt. Es ist der Nihilismus seiner Zeit, der an ihm nagt, aber noch viel mehr ist es sein maßloser Alkoholkonsum, der ihn in einem unaufhaltsamen Abwärtsstrudel in die Tiefe zieht. Seine Ehe mit Johanne und sein geliebter Sohn Oluf, seine Anstellung bei der Zeitung und seine bürgerliche Stadtwohnung: Nichts hält dem Absturz stand, alles wird für den Rausch aufs Spiel gesetzt. Bei Erscheinen sah sich »Absturz« wütenden Attacken ausgesetzt. Eine »nahezu unerträgliche Schmähschrift« sei es, in der eine »Orgie arroganter Selbsterniedrigung« geschildert werde – gleichzeitig wurde er von Autorenkollegen und der jüngeren Generation gefeiert. Als Schlüsselroman an Kristensens eigenem Leben entlang geschrieben, entwickelt die schnelle, drastische, hellwache Erzählung, die »wahrhaftig ist, ohne wahrheitsgetreu zu sein« (Tom Kristensen), einen ungeheuren Sog. Ulrich Sonnenberg findet in seiner Übersetzung eine bestechend klare Sprache, die durch Alkoholdunst und Zigarrennebel der Hotelbars und Trinkerkneipen Kopenhagens schneidet und mit bitterem Witz den Blick freilegt auf einen Roman, der sowohl ein hellsichtiges Porträt der dekadenten Kopenhagener Gesellschaft als auch eine universelle Studie menschlicher Abhängigkeit und Selbstzerstörung bietet.Kaufen
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Kurzmeinung: Wenn ich schon "Ulysses" nicht gelesen habe, kenne ich jetzt wenigstens Kristensen.
Die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gelten allgemein als wild. Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Jugend außer Rand und Band. Unser Antiheld Ole Jastrau, seines Zeichens Literaturkritiker bei der anerkannten Tageszeitung „Dagbladet“ in Kopenhagen, fühlt sich mit 35 Jahren schon uralt und nicht mehr zur Jugend gehörend, was ihm zu schaffen macht. Er liebäugelte in seinen Sturm- und Drangjahren mit der kommunistischen Weltrevolution, gilt inzwischen aber, gesegnet mit Frau und Kind, dem gut bezahlten Job und einer gediegenen geräumigen Wohnung als gesettelt und etabliert. Eichenmöbel sogar! Sozusagen unverwüstlich. Der Gipel des Konservativen. Auch das macht ihm zu schaffen, denn es kommt ihm vor wie ein Verrat an den Idealen seiner Jugend. Er hat noch einige wenige lose Verbindungen in die früheren rebellischen Kreise, in denen er verkehrte und er hat diese neue moderne Musik, diese Musik, die in ihrem Rhythmus die Rebellion selbst in sich trägt, den Jazz. Der Jazz spielt eine zentrale Rolle in dem Roman. Der Jazz und das Grammophon.
Als eines Tages ein Bekannter, Bernhard Stefan, aus vergangenen Revoluzzertagen ihn mit sanfter Gewalt dazu drängt, ihn und seinen jugendlichen Begleiter Stefan Steffensen in der Wohnung aufzunehmen und ein paar Tage vor der Polizei zu verstecken, setzt er diesem Anliegen kaum Widerstand entgegen. Zusammen mit den beiden Intruders beginnt ein erstes ausgedehntes Saufgelage, das auf lange Sicht seine Frau und seinen kleinen Sohn in die Flucht schlägt. „Von nun an gings bergab“, diese Verse aus einem alten Knef-Schlager beschreiben den weiteren Werdegang des Literaturkritikers: Ole Jastrau lässt sich treiben und ergibt sich quasi willenlos dem Suff.
Der Kommentar:
Tom Kristensen zeichnet mit seinem Roman „Absturz“ sowohl ein Porträt der dänischen Neunzehnhundertzwanziger Jahre wie auch das der Haute volée Kopenhagens anhand des Niedergangs des quallenartigen Kulturjournalisten Ole Jastrau auf. Schonungslos beleuchtet Kristensen, wie die gesellschaftliche Akzeptanz der Droge Alkohol einen schwachen Menschen in den Abgrund zieht. Im stressigen Geschäft des Zeitungsmachens ist es gang und gäbe, sich nach Feierabend einen hinter die Binde zu kippen. Man lädt sich gegenseitig ein und versäuft sein Gehalt. Für Ole Jastrau, den willigen Mittrinker sind diese Gewohnheiten und Versuchungen verheerend. Er hat ihnen nichts entgegenzusetzen und er will ihnen nichts entgegensetzen. Anders als sein Kollege Eriksen, der als kontrollierter Alkoholiker in der Redaktion geduldet ist, verliert Ole schnell die Kontrolle. Sowohl über den Alkoholkonsum wie auch über sein Leben. Großartig die Szene, als gerade Eriksen ihn warnt und ihm bedeutet, den Alkoholismus zu zähmen und ihm nur bestimmte Stunden des Tages einzuräumen, nachts zu schlafen und das geregelte Durchgetaktete des Alltags nicht aufzugeben. Vergebens natürlich. Auch groß die Szene, als Ole Jastrau klar wird, dass man selbst für das Projekt, durch Alkoholismus „gepflegt vor die Hunde zu gehen“ eine gewisse finanzielle Absicherung braucht wie sie der haltlose „ewige Kjaer“ besitzt, der im Hotel über der Bar wohnt, damit der Weg zum Stoff nicht weit ist. Früher war auch Kjaer ein geachteter Kollege, von dessen Renommee ist noch etwas übrig, aber im Grunde genommen ist seine Persönlichkeit bereits im Whisky ertrunken. Immerhin ist der von Haus aus reiche Kjaer freigiebig und gelegentlich schmeißt er Runde um Runde und hält alle frei, aber Jastrau kann sich diesen Luxus nicht leisten. Er hat kein Vermögen in der Hinterhand wie Kjaer. Doch noch zahlt unser Ole alle auflaufenden Rechnungen und zahlt sogar zurück, was er sich ausgeliehen hat und bezahlt für die Schäden, der er im Suff angerichtet hat. Allerdings braucht er dafür mehr und mehr Anstöße von außen. Und seine Börse wird immer leerer. Soll man sich darüber Gedanken machen? Lieber noch ein Glas. Hoch die Tassen.
Man merkt der Lektüre dieses Romans an, wie sehr der Autor von James Joycens Ulysses beeinflusst ist. Auch Kristensens Protagonist streift durch die nächtlichen Straßen der Großstadt und bietet dem Autor die Gelegenheit, „Ansichten von Kopenhagen“ in lyrische Worte zu fassen, wie Joyce dies mit Dublin getan hat. Die Straßen, die Häuser, der Regen, vor allem die Sonne spiegelt sich in den Fassaden; nachts aber herrscht eine Film-Noir-Atmosphäre. Licht und Schatten. Loneliness.
Die von Kristensen verwendete Sprache ist modern, bildhaft, überspannt, pathetisch, spielt ins Mystische hinüber, löst sich zeitweilig fast auf und könnte auch schwülstig genannt werden, sie ist schillernd wie eine Seifenblase. Auf alle Fälle hat sie sich von einer bloßen naturalistischen, realen Beschreibung gelöst. Man mag diese Art überhöhter Sprachmalerei mögen oder nicht mögen, die Rezensentin mag sie nicht, dennoch bewirkt gerade die Sprache Kristensens einen gewissen Lesesog, trotz spärlicher Handlung. Denn es passiert nicht viel, die geneigte Leserschaft begleitet Ole von Rausch zu Rauschzustand, nach einer durchzechten Nacht landet er nicht zuhause in seinem Bett, sondern in der nächsten Bar. Innere und äußere Verwahrlosung nehmen zu und eigentlich müsste Jastrau in der Gosse landen.
Der Roman „Absturz“ von Tom Kristensen kam unter dem Titel „Roman einer Verwüstung“, übersetzt von Gisela Peret bereits 1992 auf den deutschen Buchmarkt, fand aber nicht viel Beachtung. Die Story um Ole Jastrau wurde noch früher unter dem dänischen Originaltitel Hærværk (1977) verfilmt. Nun wurde er in der hervorragenden Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg gelesen. Der Roman gehört zur Weltliteratur, ist also ein sogenannter Klassiker. Die Klassiker der Weltliteratur gehören zum deutschen Bildungsbürgertum genauso wie die Sinfonien von Mozart, wie die Klaviermusik von Tschaikowski, die Orchesterwerke von Schostakowitsch und Mussorgskis Bilder einer Ausstellung. Eigenartig, dass Tom Kristensen gerade für diejenige Klientel schreibt, die seine Protagonisten so sehr verachten.
Man braucht Ausdauer, um diesen Roman zu lesen. Er ist lang! Ihn in kürzester Zeit zu inhalieren, wie Knut Hamsun dies bei seiner Ersterscheinung laut informativem Nachwort wohl getan hat und der auch des Lobes voll war über diesen Roman, - wird ihn heute wohl keiner mehr. Sind die Vorbilder aus der Haute volée, die Kristensen laut Nachwort kaum verschleiert in seinem Roman beschrieb, der dänischen Leserschaft anno dunno bekannt gewesen und löste der Roman deshalb einen kleinen Skandal aus, kennt diese Herrschaften heute keiner mehr, jedenfalls nicht im deutschen Raum. Der Roman „Absturz“ hat diese Art von Aktualität verloren, zumal es auch im Nachwort keinen Hinweis auf deren Identität gibt.
Wer sind der Verleger Iversen in Real Life gewesen, wer der ewige Kjaer, wer sind die Kollegen Otto Kryger und wer seine großzügige, aber naive Gattin? Wer sind Eriksen, Vuldum, wer der Apotheker H.C. Stefani, der seine ganze Familie plus Hausmädchen mit Syphilis ansteckt, wer der Anwalt Krog mit der Zulassung beim Obersten Gerichtshof ? Wer sind die kommunistischen Rebellen B. Stefan und Steffensen, beide aus gutem Hause? Hat es sie gegeben? Sind alle oder manche diese Figuren wirklich nach echten Vorbildern der dänischen High Society der 1920er Jahre Dänemarks gezeichnet. Erkennbar? Skandalträchtig? No idea. Wäre ein Hinweis auf deren (vermeintliche) Identitäten im Nachwort heute noch juristisch bedenklich? Da es diese Hinweise nicht gibt und die Erkennbarkeit heute keine Rolle mehr spielt, hat der Roman, wie schon gesagt, sowohl die damalige Tagesaktualität wie auch den direkten historischen Bezug dahin leider verloren.
Als Porträt einer Abwärtsspirale jedoch ist der Roman zeitlos. Er besticht dadurch, dass er stracks auf sein Ziel lossteuert, ohne nennenswerte Umwege über Nebenhandlungen zu gehen, man wartet förmlich auf den Aufschlag. Unten angekommen. Dass dieser Aufschlag letztlich aber ausbleibt und damit die katastrophalen Auswirkungen einer Alkoholkrankheit letztlich doch bagatellisiert, ist ein punktekostendes Manko. Frauen kommen nur als Erotikobjekte, in irgendeiner Form dienend oder als lächerliche, schwache und verächtliche, rückgratlose Geschöpfe vor. Das ist auch so ein Punkt, der nicht begeistern kann.
Fazit: Weltliteratur. In gewisser Weise faszinierend. In gewisser Weise genial. Aber so richtig begeistert bin ich dennoch nicht. Man hat aber seiner Bildungsbürgertumspflicht Genüge getan. Wenn man schon "Ulysses" nur als Zusammenfassung kennt.
Kategorie: Weltliteratur. Klassiker.
Verlag: Guggolz, 2023
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