Rezension Rezension (3/5*) zu Was Nina wusste: Roman von David Grossman.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Familiäre Verstrickungen

„Rafael war fünfzehn, als seine Mutter starb und ihn von ihrem Leiden erlöste.“ (S.7) Bereits mit diesem ersten Satz erfasst man den Charakter dieses Romans, in dem es im Kern um familiäre Verstrickungen, um Liebe, Verrat, Reue, Schuld und Scham geht. Rafael lebt zusammen mit seinem Vater Tuvia in einem Kibbuz in Israel, als der Teenager sich unsterblich in die geheimnisvolle, nur wenige Jahre ältere, Nina verliebt, die erst kurz zuvor gemeinsam mit ihrer Mutter Vera im Kibbuz eingezogen ist. Das Schicksal will es, dass Tuvia und Vera nach Ende der Trauerzeit heiraten. Die neue Stiefmutter versucht dem Jungen ein liebevoller Mutterersatz zu sein. Nina entzieht sich der Familie jedoch, sie verlässt den Kibbuz und wird jahrelang nicht gefunden.
Rafael leidet unter ihrer Abwesenheit, sie ist die Liebe seines Lebens. Irgendwann wird seine permanente Suche belohnt. Nina wird eine Weile sesshaft, die beiden führen eine schwierige Beziehung, sie bekommen eine Tochter, Gili. Nach etwa drei Jahren hält es die unstete Nina nicht mehr aus. Sie zieht erneut von ihren Dämonen getrieben in die Welt.

Anlässlich des 90. Geburtstages ihrer Oma Vera beginnt die mittlerweile 36-jährige Gili, die Familienchronik zu recherchieren und zu hinterfragen. Wie ihr Vater arbeitet sie in der Filmbranche. Das macht es naheliegend, eine Filmdokumentation mit Interviews aller Familienmitglieder vorzubereiten.
Auch Nina ist zum Geburtstag ihrer Mutter angereist. Es ist sofort augenfällig, dass die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern schwer gestört sind. Gili kann das frühe Verlassenwerden ihrer Mutter nicht verzeihen, sie wird zwischen Anziehung und Ablehnung hin- und hergerissen. Auch Nina hat ein dysfunktionales Verhältnis zu ihrer Mutter Vera. Ursachen scheinen auch bei ihr traumatische Erlebnisse aus der Kindheit zu sein. Eine diagnostizierte schwere Krankheit macht Nina etwas zugänglicher. Sie bleibt und öffnet sich für das Filmprojekt.

Die Ich-Erzählerin ist Gili. Sie führt den Leser zunächst in das komplizierte Familiengeflecht ein, indem sie verschiedene Episoden aus der Vergangenheit zusammenträgt. Ihre wichtigsten Bezugspersonen sind ihr Vater und Oma Vera, viele Informationen hat sie zwangsläufig von ihnen erhalten.

Im Rahmen des Filmprojekts werden sich die Frauen zum ersten Mal seit Jahren mit den Brüchen ihrer Familiengeschichte konfrontieren und sich gemeinsam darüber auseinander setzen. Das führt zu Diskussionen und Konflikten, zu intensiven Gefühlen; verschwiegene Wahrheiten und Geheimnisse brechen aus ihnen heraus. Der Leser erfährt immer mehr, kann sich nach und nach ein komplettes Bild der Figuren und ihrer Traumata machen. Dabei muss man nicht alles verstehen oder gar gutheißen. Grossman versteht es, die Charaktere seiner Protagonisten differenziert und vielschichtig anzulegen. Es gibt nicht nur gut oder nur schlecht.

Höhepunkt des Romans ist eine gemeinsame Reise, die zunächst nach Kroatien in Veras Heimatstadt Cakovec führt, wo sie einst Ninas Vater Milos kennen- und lieben lernte. Ihre Geschichte wird blumig, zu Übertreibungen neigend, erzählt. Manche Episode mutet auch skurril an, doch man nimmt sie dieser alten jüdischen Dame ab. Doch diese Ablenkungen währen nur kurz, denn Veras Geschichte findet ihren tragischen Ausgang auf der Gefängnisinsel Goli Otok. Nach dem Tod ihres Mannes wird sie der Spionage verdächtigt und für fast drei Jahre dort eingesperrt. Sie muss Zwangsarbeit leisten und ihre 6-jährigeTochter Nina zurücklassen - ein Verhängnis, das sie lebenslang begleitet.

Die Erinnerungen Veras an das Lager Goli Otok werden durch eine andere Schriftart und Erzählperspektive abgehoben. Für mich waren diese Abschnitte die Highlights des Buches. Man hat schon oft über die Zustände in Lagern von Unrechtsstaaten gelesen, hier gelingt es besonders intensiv, bewegend und authentisch. (Man sollte wissen, dass es für die Figur der Vera eine reale Person gegeben hat: Eva Panic-Nahir war eine in Jugoslawien hoch angesehene Frau, die fast drei Jahre auf der Gefängnisinsel Goli Otok zubringen musste. Das ist der Ort, an den unter Tito die vermeintlichen Dissidenten des Regimes verbracht wurden. Die beschriebenen Erlebnisse dürften weitgehend der Wahrheit entsprechen. Grossman war mit der vor wenigen Jahren verstorbenen Eva Panic-Nahir befreundet und hatte die Erlaubnis, ihre Lebensgeschichte fiktional zu bearbeiten.)

Die Stärke des Romans ist seine bild- und facettenreiche Sprache. Die Dilemmata der weiblichen Charaktere werden sehr gut ausgearbeitet. Rafael bleibt im Hintergrund für meinen Geschmack etwas blass. Der Roman entwickelt immer mehr Dramatik. Das muss man mögen. Grossman lässt die Handlung sehr gezielt auf einen Höhepunkt zusteuern, der von Naturgewalten, unglücklichen Zufällen und Gefahren begleitet wird. Das war mir persönlich etwas viel. Die Geschichte an sich hat ein so großes Potential, sie beginnt so intensiv, dass man sie auch etwas leiser mit weniger Wucht hätte erzählen können. Außerdem empfand ich manche Länge, kreiste der Roman doch immer wieder um das Seelenleben seiner drei Protagonistinnen, ohne im Kern zu neuen Erkenntnissen zu führen. Zudem passte aus meiner Sicht die Auflösung am Ende nicht zu den zuvor höchst kompliziert angelegten, lange schwelenden Konflikten.

Ich empfehle diesen Roman allen Freunden komplizierter Familiengeschichten. „Was Nina wusste“ ist kein Roman, der fröhlich stimmt. Er setzt sich mit einem Stück europäischer Zeitgeschichte auseinander, ohne sehr politisch zu werden. Alles dreht sich um drei Frauenfiguren einer Familie, die unter großen Verlusten leiden und gemeinsam versuchen, ihre Traumata zu überwinden.


 

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